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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
der Bedeutung der Persönlichkeit im Gegensatz zur Tyrannei angeb-
lich überpersönlicher Offenbarungen und Gesetze in den Vordergrund
des menschlichen Interesses gerückt. Erst durch die Unterscheidung
zwischen den Individuen (ein der Mystik gänzlich verschlossenes Thema)
trat die volle Bedeutung der überragenden Persönlichkeiten als der
wahren Träger jeder echten, entwickelungsfähigen, freiheitlichen Kultur
zu Tage; daher war denn auch diese Unterscheidung eine der segens-
reichsten Thaten aus der Entstehung und für die Entstehung unserer
neuen Kultur, denn sie stellte die wahrhaft grossen Männer auf die
Piedestale, auf welche sie hingehören und wo sie ein Jeder deutlich
erblicken kann. Das erst ist Freiheit: die rückhaltlose Anerkennung
menschlicher Grösse, diese gebe sich, wie sie wolle. Dieses "höchste
Glück", wie Goethe es nannte, haben die Humanisten uns zurück-
erobert; nunmehr müssen wir es mit allen Kräften uns bewahren. Wer
es uns rauben will, und stiege er auch vom Himmel herab, ist unser
Todfeind.

Mehr bringe ich über die Humanisten nicht vor, denn was ich
noch sagen könnte, wäre nur Wiederholung des Allbekannten; hier
darf ich, was ich bei den Mystikern nicht konnte, nicht allein die
Thatsachen, sondern auch ihre Bedeutung als im grossen und ganzen
richtig beurteilt voraussetzen; einzig jener leuchtende Mittelpunkt --
die Emanzipation des Individuellen -- wird gewöhnlich übersehen
und musste daher hier betont werden; nur durch die Augen des
Genies kann uns eine leuchtende Weltanschauung zu Teil werden und
einzig in unseren eigenen Sprachen kann sie Gestalt gewinnen.

Auch die letzte Gruppe der nach einer neuen WeltanschauungDie natur-
forschenden
Philosophen.

Ringenden, die der naturforschenden Philosophen, ist jedem Gebil-
deten gut bekannt; ich kann mich also auch hier auf jene Andeu-
tungen beschränken, welche der Zweck dieses Kapitels erheischt.
Dagegen zwingt mich die Notwendigkeit, auch dem philosophisch
nicht geübten Leser diesen grundlegenden Bestandteil unserer Kultur
viel eindringlicher und klarer, als sonst geschieht, nahezulegen, zu
einer gewissen Ausführlichkeit; diese wird, hoffe ich, das Verständnis
erleichtern.

Grundlegend ist die Thatsache, dass Menschen, um die Welt
zu begreifen, sich nunmehr nicht mit angeblich autoritativen, über-
weltlichen Ansprüchen begnügen, sondern sich wieder an die Welt
selbst wenden und sie befragen; das war Jahrhunderte lang verpönt
gewesen. Wohlbetrachtet ist das eine allen diesen verschiedenen

Weltanschauung und Religion.
der Bedeutung der Persönlichkeit im Gegensatz zur Tyrannei angeb-
lich überpersönlicher Offenbarungen und Gesetze in den Vordergrund
des menschlichen Interesses gerückt. Erst durch die Unterscheidung
zwischen den Individuen (ein der Mystik gänzlich verschlossenes Thema)
trat die volle Bedeutung der überragenden Persönlichkeiten als der
wahren Träger jeder echten, entwickelungsfähigen, freiheitlichen Kultur
zu Tage; daher war denn auch diese Unterscheidung eine der segens-
reichsten Thaten aus der Entstehung und für die Entstehung unserer
neuen Kultur, denn sie stellte die wahrhaft grossen Männer auf die
Piedestale, auf welche sie hingehören und wo sie ein Jeder deutlich
erblicken kann. Das erst ist Freiheit: die rückhaltlose Anerkennung
menschlicher Grösse, diese gebe sich, wie sie wolle. Dieses »höchste
Glück«, wie Goethe es nannte, haben die Humanisten uns zurück-
erobert; nunmehr müssen wir es mit allen Kräften uns bewahren. Wer
es uns rauben will, und stiege er auch vom Himmel herab, ist unser
Todfeind.

Mehr bringe ich über die Humanisten nicht vor, denn was ich
noch sagen könnte, wäre nur Wiederholung des Allbekannten; hier
darf ich, was ich bei den Mystikern nicht konnte, nicht allein die
Thatsachen, sondern auch ihre Bedeutung als im grossen und ganzen
richtig beurteilt voraussetzen; einzig jener leuchtende Mittelpunkt —
die Emanzipation des Individuellen — wird gewöhnlich übersehen
und musste daher hier betont werden; nur durch die Augen des
Genies kann uns eine leuchtende Weltanschauung zu Teil werden und
einzig in unseren eigenen Sprachen kann sie Gestalt gewinnen.

Auch die letzte Gruppe der nach einer neuen WeltanschauungDie natur-
forschenden
Philosophen.

Ringenden, die der naturforschenden Philosophen, ist jedem Gebil-
deten gut bekannt; ich kann mich also auch hier auf jene Andeu-
tungen beschränken, welche der Zweck dieses Kapitels erheischt.
Dagegen zwingt mich die Notwendigkeit, auch dem philosophisch
nicht geübten Leser diesen grundlegenden Bestandteil unserer Kultur
viel eindringlicher und klarer, als sonst geschieht, nahezulegen, zu
einer gewissen Ausführlichkeit; diese wird, hoffe ich, das Verständnis
erleichtern.

Grundlegend ist die Thatsache, dass Menschen, um die Welt
zu begreifen, sich nunmehr nicht mit angeblich autoritativen, über-
weltlichen Ansprüchen begnügen, sondern sich wieder an die Welt
selbst wenden und sie befragen; das war Jahrhunderte lang verpönt
gewesen. Wohlbetrachtet ist das eine allen diesen verschiedenen

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[897/0376] Weltanschauung und Religion. der Bedeutung der Persönlichkeit im Gegensatz zur Tyrannei angeb- lich überpersönlicher Offenbarungen und Gesetze in den Vordergrund des menschlichen Interesses gerückt. Erst durch die Unterscheidung zwischen den Individuen (ein der Mystik gänzlich verschlossenes Thema) trat die volle Bedeutung der überragenden Persönlichkeiten als der wahren Träger jeder echten, entwickelungsfähigen, freiheitlichen Kultur zu Tage; daher war denn auch diese Unterscheidung eine der segens- reichsten Thaten aus der Entstehung und für die Entstehung unserer neuen Kultur, denn sie stellte die wahrhaft grossen Männer auf die Piedestale, auf welche sie hingehören und wo sie ein Jeder deutlich erblicken kann. Das erst ist Freiheit: die rückhaltlose Anerkennung menschlicher Grösse, diese gebe sich, wie sie wolle. Dieses »höchste Glück«, wie Goethe es nannte, haben die Humanisten uns zurück- erobert; nunmehr müssen wir es mit allen Kräften uns bewahren. Wer es uns rauben will, und stiege er auch vom Himmel herab, ist unser Todfeind. Mehr bringe ich über die Humanisten nicht vor, denn was ich noch sagen könnte, wäre nur Wiederholung des Allbekannten; hier darf ich, was ich bei den Mystikern nicht konnte, nicht allein die Thatsachen, sondern auch ihre Bedeutung als im grossen und ganzen richtig beurteilt voraussetzen; einzig jener leuchtende Mittelpunkt — die Emanzipation des Individuellen — wird gewöhnlich übersehen und musste daher hier betont werden; nur durch die Augen des Genies kann uns eine leuchtende Weltanschauung zu Teil werden und einzig in unseren eigenen Sprachen kann sie Gestalt gewinnen. Auch die letzte Gruppe der nach einer neuen Weltanschauung Ringenden, die der naturforschenden Philosophen, ist jedem Gebil- deten gut bekannt; ich kann mich also auch hier auf jene Andeu- tungen beschränken, welche der Zweck dieses Kapitels erheischt. Dagegen zwingt mich die Notwendigkeit, auch dem philosophisch nicht geübten Leser diesen grundlegenden Bestandteil unserer Kultur viel eindringlicher und klarer, als sonst geschieht, nahezulegen, zu einer gewissen Ausführlichkeit; diese wird, hoffe ich, das Verständnis erleichtern. Die natur- forschenden Philosophen. Grundlegend ist die Thatsache, dass Menschen, um die Welt zu begreifen, sich nunmehr nicht mit angeblich autoritativen, über- weltlichen Ansprüchen begnügen, sondern sich wieder an die Welt selbst wenden und sie befragen; das war Jahrhunderte lang verpönt gewesen. Wohlbetrachtet ist das eine allen diesen verschiedenen

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 897. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/376>, abgerufen am 29.04.2024.