Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Entstehung einer neuen Welt.
Gruppen des erwachenden Germanentums gemeinsame Eigenschaft.
Denn der Mystiker versenkt sich in die Welt seines eigenen Innern --
also auch in die Welt -- und erfasst die unmittelbare Gegenwart
seines individuellen Lebens mit so viel Kraft, dass Schriftzeugnis und
Glaubenslehre zu einem Nebensächlichen verblassen; seine Methode
könnte man die Objektivierung des subjektiv gegebenen Weltstoffes
nennen. Aufgabe des Humanisten ist es dagegen, alle verschiedenen
menschlichen Zeugnisse zu sammeln und zu prüfen -- wahrlich ein
wichtiges Dokument der Weltgeschichte --, schon das blosse Be-
streben bezeugt ein objektives Interesse für die menschliche Natur
überhaupt, und auf keinem anderen Wege wurde die falsche An-
massung angeblicher Autorität schneller untergraben. Und selbst inner-
halb der Theologie hatte sich diese Richtung Bahn gebrochen; denn
indem ein Duns Scotus Vernunft und Welt vom Glauben völlig ge-
trennt wissen will, befreit er sie zu selbständigem Leben, und sein
Ordensbruder Roger Bacon fordert denn auch das freie, durch keine
theologische Rücksicht gefesselte Studium der Natur und begründet
dadurch die eigentliche naturforschende Philosophie. Ich sage "natur-
forschende" Philosophie, nicht Naturphilosophie, denn dieser letzte
Ausdruck wird für bestimmte Systeme in Anspruch genommen,
während ich zunächst lediglich eine Methode hervorheben will.1)
Diese Methode ist aber auch die Hauptsache, denn sie bildet das eini-
gende Band und bewirkt, dass trotz der Verschiedenheit der Rich-
tungen und der versuchten Lösungen unsere Philosophie doch als
Gesamterscheinung sich folgerecht entwickelt hat und ein echtes
Kulturelement geworden ist, indem sie eine neue Weltanschauung
vorbereitet und bis zu einem gewissen Grade auch schon durchgeführt
hat. Der Kernpunkt dieser Methode ist die Beobachtung der Natur,
und zwar die gänzlich uninteressierte, einzig auf Wahrheit ausgehende
Beobachtung. Diese Philosophie ist Philosophie als Wissenschaft;
hierdurch unterscheidet sie sich nicht allein von Theologie und Mysti-
cismus, sondern -- das merke man wohl -- auch von jener gefähr-

1) Man versteht unter "Naturphilosophie" einerseits den kindlichen und
kindischen Materialismus, dessen Nutzen für das Gesamtwerk, als "Mist, den Boden
zu düngen für die Philosophie" (Schopenhauer) nicht geleugnet werden soll, und
andererseits dessen Gegenpart, Schelling's transscendentalen Idealismus, dessen Nutzen
vermutlich unter Zugrundelegung des alten ästhetischen Dogmas beurteilt werden
muss, wonach ein Kunstwerk umso höher zu schätzen ist, je weniger es irgend
einem denkbaren Zwecke dienen kann.

Die Entstehung einer neuen Welt.
Gruppen des erwachenden Germanentums gemeinsame Eigenschaft.
Denn der Mystiker versenkt sich in die Welt seines eigenen Innern —
also auch in die Welt — und erfasst die unmittelbare Gegenwart
seines individuellen Lebens mit so viel Kraft, dass Schriftzeugnis und
Glaubenslehre zu einem Nebensächlichen verblassen; seine Methode
könnte man die Objektivierung des subjektiv gegebenen Weltstoffes
nennen. Aufgabe des Humanisten ist es dagegen, alle verschiedenen
menschlichen Zeugnisse zu sammeln und zu prüfen — wahrlich ein
wichtiges Dokument der Weltgeschichte —, schon das blosse Be-
streben bezeugt ein objektives Interesse für die menschliche Natur
überhaupt, und auf keinem anderen Wege wurde die falsche An-
massung angeblicher Autorität schneller untergraben. Und selbst inner-
halb der Theologie hatte sich diese Richtung Bahn gebrochen; denn
indem ein Duns Scotus Vernunft und Welt vom Glauben völlig ge-
trennt wissen will, befreit er sie zu selbständigem Leben, und sein
Ordensbruder Roger Bacon fordert denn auch das freie, durch keine
theologische Rücksicht gefesselte Studium der Natur und begründet
dadurch die eigentliche naturforschende Philosophie. Ich sage »natur-
forschende« Philosophie, nicht Naturphilosophie, denn dieser letzte
Ausdruck wird für bestimmte Systeme in Anspruch genommen,
während ich zunächst lediglich eine Methode hervorheben will.1)
Diese Methode ist aber auch die Hauptsache, denn sie bildet das eini-
gende Band und bewirkt, dass trotz der Verschiedenheit der Rich-
tungen und der versuchten Lösungen unsere Philosophie doch als
Gesamterscheinung sich folgerecht entwickelt hat und ein echtes
Kulturelement geworden ist, indem sie eine neue Weltanschauung
vorbereitet und bis zu einem gewissen Grade auch schon durchgeführt
hat. Der Kernpunkt dieser Methode ist die Beobachtung der Natur,
und zwar die gänzlich uninteressierte, einzig auf Wahrheit ausgehende
Beobachtung. Diese Philosophie ist Philosophie als Wissenschaft;
hierdurch unterscheidet sie sich nicht allein von Theologie und Mysti-
cismus, sondern — das merke man wohl — auch von jener gefähr-

1) Man versteht unter »Naturphilosophie« einerseits den kindlichen und
kindischen Materialismus, dessen Nutzen für das Gesamtwerk, als »Mist, den Boden
zu düngen für die Philosophie« (Schopenhauer) nicht geleugnet werden soll, und
andererseits dessen Gegenpart, Schelling’s transscendentalen Idealismus, dessen Nutzen
vermutlich unter Zugrundelegung des alten ästhetischen Dogmas beurteilt werden
muss, wonach ein Kunstwerk umso höher zu schätzen ist, je weniger es irgend
einem denkbaren Zwecke dienen kann.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0377" n="898"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
Gruppen des erwachenden Germanentums gemeinsame Eigenschaft.<lb/>
Denn der Mystiker versenkt sich in die Welt seines eigenen Innern &#x2014;<lb/>
also auch in die Welt &#x2014; und erfasst die unmittelbare Gegenwart<lb/>
seines individuellen Lebens mit so viel Kraft, dass Schriftzeugnis und<lb/>
Glaubenslehre zu einem Nebensächlichen verblassen; seine Methode<lb/>
könnte man die Objektivierung des subjektiv gegebenen Weltstoffes<lb/>
nennen. Aufgabe des Humanisten ist es dagegen, alle verschiedenen<lb/>
menschlichen Zeugnisse zu sammeln und zu prüfen &#x2014; wahrlich ein<lb/>
wichtiges Dokument der Weltgeschichte &#x2014;, schon das blosse Be-<lb/>
streben bezeugt ein objektives Interesse für die menschliche Natur<lb/>
überhaupt, und auf keinem anderen Wege wurde die falsche An-<lb/>
massung angeblicher Autorität schneller untergraben. Und selbst inner-<lb/>
halb der Theologie hatte sich diese Richtung Bahn gebrochen; denn<lb/>
indem ein Duns Scotus Vernunft und Welt vom Glauben völlig ge-<lb/>
trennt wissen will, befreit er sie zu selbständigem Leben, und sein<lb/>
Ordensbruder Roger Bacon fordert denn auch das freie, durch keine<lb/>
theologische Rücksicht gefesselte Studium der Natur und begründet<lb/>
dadurch die eigentliche naturforschende Philosophie. Ich sage »natur-<lb/>
forschende« Philosophie, nicht Naturphilosophie, denn dieser letzte<lb/>
Ausdruck wird für bestimmte Systeme in Anspruch genommen,<lb/>
während ich zunächst lediglich eine Methode hervorheben will.<note place="foot" n="1)">Man versteht unter »Naturphilosophie« einerseits den kindlichen und<lb/>
kindischen Materialismus, dessen Nutzen für das Gesamtwerk, als »Mist, den Boden<lb/>
zu düngen für die Philosophie« (Schopenhauer) nicht geleugnet werden soll, und<lb/>
andererseits dessen Gegenpart, Schelling&#x2019;s transscendentalen Idealismus, dessen Nutzen<lb/>
vermutlich unter Zugrundelegung des alten ästhetischen Dogmas beurteilt werden<lb/>
muss, wonach ein Kunstwerk umso höher zu schätzen ist, je weniger es irgend<lb/>
einem denkbaren Zwecke dienen kann.</note><lb/>
Diese Methode ist aber auch die Hauptsache, denn sie bildet das eini-<lb/>
gende Band und bewirkt, dass trotz der Verschiedenheit der Rich-<lb/>
tungen und der versuchten Lösungen unsere Philosophie doch als<lb/>
Gesamterscheinung sich folgerecht entwickelt hat und ein echtes<lb/>
Kulturelement geworden ist, indem sie eine neue Weltanschauung<lb/>
vorbereitet und bis zu einem gewissen Grade auch schon durchgeführt<lb/>
hat. Der Kernpunkt dieser Methode ist die Beobachtung der Natur,<lb/>
und zwar die gänzlich uninteressierte, einzig auf Wahrheit ausgehende<lb/>
Beobachtung. Diese Philosophie ist Philosophie als Wissenschaft;<lb/>
hierdurch unterscheidet sie sich nicht allein von Theologie und Mysti-<lb/>
cismus, sondern &#x2014; das merke man wohl &#x2014; auch von jener gefähr-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[898/0377] Die Entstehung einer neuen Welt. Gruppen des erwachenden Germanentums gemeinsame Eigenschaft. Denn der Mystiker versenkt sich in die Welt seines eigenen Innern — also auch in die Welt — und erfasst die unmittelbare Gegenwart seines individuellen Lebens mit so viel Kraft, dass Schriftzeugnis und Glaubenslehre zu einem Nebensächlichen verblassen; seine Methode könnte man die Objektivierung des subjektiv gegebenen Weltstoffes nennen. Aufgabe des Humanisten ist es dagegen, alle verschiedenen menschlichen Zeugnisse zu sammeln und zu prüfen — wahrlich ein wichtiges Dokument der Weltgeschichte —, schon das blosse Be- streben bezeugt ein objektives Interesse für die menschliche Natur überhaupt, und auf keinem anderen Wege wurde die falsche An- massung angeblicher Autorität schneller untergraben. Und selbst inner- halb der Theologie hatte sich diese Richtung Bahn gebrochen; denn indem ein Duns Scotus Vernunft und Welt vom Glauben völlig ge- trennt wissen will, befreit er sie zu selbständigem Leben, und sein Ordensbruder Roger Bacon fordert denn auch das freie, durch keine theologische Rücksicht gefesselte Studium der Natur und begründet dadurch die eigentliche naturforschende Philosophie. Ich sage »natur- forschende« Philosophie, nicht Naturphilosophie, denn dieser letzte Ausdruck wird für bestimmte Systeme in Anspruch genommen, während ich zunächst lediglich eine Methode hervorheben will. 1) Diese Methode ist aber auch die Hauptsache, denn sie bildet das eini- gende Band und bewirkt, dass trotz der Verschiedenheit der Rich- tungen und der versuchten Lösungen unsere Philosophie doch als Gesamterscheinung sich folgerecht entwickelt hat und ein echtes Kulturelement geworden ist, indem sie eine neue Weltanschauung vorbereitet und bis zu einem gewissen Grade auch schon durchgeführt hat. Der Kernpunkt dieser Methode ist die Beobachtung der Natur, und zwar die gänzlich uninteressierte, einzig auf Wahrheit ausgehende Beobachtung. Diese Philosophie ist Philosophie als Wissenschaft; hierdurch unterscheidet sie sich nicht allein von Theologie und Mysti- cismus, sondern — das merke man wohl — auch von jener gefähr- 1) Man versteht unter »Naturphilosophie« einerseits den kindlichen und kindischen Materialismus, dessen Nutzen für das Gesamtwerk, als »Mist, den Boden zu düngen für die Philosophie« (Schopenhauer) nicht geleugnet werden soll, und andererseits dessen Gegenpart, Schelling’s transscendentalen Idealismus, dessen Nutzen vermutlich unter Zugrundelegung des alten ästhetischen Dogmas beurteilt werden muss, wonach ein Kunstwerk umso höher zu schätzen ist, je weniger es irgend einem denkbaren Zwecke dienen kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/377
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 898. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/377>, abgerufen am 29.04.2024.