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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
was sie nicht wissen, bis in jedem einzelnen Falle exakte Forschung
ihnen gezeigt hat, bis wohin ihr Wissen sich erstreckt. Das hört
sich sehr einfach und terre a terre an, ist aber so wenig von selbst
einleuchtend, und so schwer in die Praxis des Denkens zu übertragen,
dass ich vermute, kaum irgend Jemand, der die Schule der Natur-
wissenschaft nicht durchgemacht hat, wird die Bemerkung De Can-
dolle's vollständig würdigen.1) Auf jedem anderen Gebiete nämlich
ist weitgehende Selbsttäuschung bis zu völliger Verblendung möglich;
die Thatsachen selber sind meist fragmentarisch oder fraglich, sie be-
sitzen nicht Dauer und Unveränderlichkeit, Wiederholung ist darum
unmöglich, Experiment ausgeschlossen, Leidenschaft waltet, Betrug ge-
horcht ihr. Auch kann das Wissen von einem Wissen das Wissen
um eine Thatsache der Natur nie ersetzen; letzteres ist eben ein Wissen
von ganz anderer Art; denn hier steht der Mensch nicht dem Menschen,
sondern einem inkommensurablen Wesen gegenüber, einem Wesen,
über das er gar keine Macht besitzt, und welches man im Gegensatz
zum ewig kombinierenden, durcheinanderwürfelnden, anthropomorphisch
zurechtlegenden Menschenhirn, als die ungeschminkte, nackte, kalte,
ewige Wahrheit bezeichnen kann. Wie mannigfaltig, sowohl negativ
wie positiv, der Gewinn eines derartigen Verkehrs für die Erweiterung
und Ausbildung des Menschengeistes sein muss, leuchtet gewiss von
selbst ein. Dass der spezielle Naturforscher auf empirischem Gebiete
durch das genaue Ermessen seines Nichtwissens den ersten Schritt zur
Erweiterung seines Wissens thut, wurde schon früher gezeigt;2) man

1) In einer Gesellschaft von Hochschullehrern hörte ich vor einigen Jahren
psychologisch-physiologische Themata besprechen; anknüpfend an die Lokalisation
der Sprachfunktionen in der Broca'schen Stirnwindung meinte der eine Gelehrte,
jedes einzelne Wort sei "in einer besonderen Zelle lokalisiert"; er verglich diese
Einrichtung sinnreich mit einem Schrank, der etliche Tausend Schübchen besässe,
die auf Wunsch auf- und zugeschoben werden könnten (etwa also wie die heutigen
Automaten-Restaurants); es hörte sich ganz reizend an und nicht eine Spur minder
plausibel als "Tischchen deck' dich". Da meine positiven Kenntnisse in Bezug auf
die Histologie des Gehirnes sich auf vor Jahren gehörte Vorträge und Demon-
strationen beschränken, also äusserst gering sind, und ich aus näherer Anschauung
nur die Elemente der groben Anatomie dieses Organes kenne, bat ich den be-
treffenden Herrn um genauere Auskunft, wobei es sich aber herausstellte, dass er
in seinem Leben keinen Seciersaal betreten und überhaupt niemals ein Gehirn
(ausser auf den schönen Holzschnitten einiger Lehrbücher) gesehen hatte: daher
ahnte er so ganz und gar nicht die Grenze zwischen dem Bekannten und dem
Unbekannten.
2) Siehe S. 766.

Die Entstehung einer neuen Welt.
was sie nicht wissen, bis in jedem einzelnen Falle exakte Forschung
ihnen gezeigt hat, bis wohin ihr Wissen sich erstreckt. Das hört
sich sehr einfach und terre à terre an, ist aber so wenig von selbst
einleuchtend, und so schwer in die Praxis des Denkens zu übertragen,
dass ich vermute, kaum irgend Jemand, der die Schule der Natur-
wissenschaft nicht durchgemacht hat, wird die Bemerkung De Can-
dolle’s vollständig würdigen.1) Auf jedem anderen Gebiete nämlich
ist weitgehende Selbsttäuschung bis zu völliger Verblendung möglich;
die Thatsachen selber sind meist fragmentarisch oder fraglich, sie be-
sitzen nicht Dauer und Unveränderlichkeit, Wiederholung ist darum
unmöglich, Experiment ausgeschlossen, Leidenschaft waltet, Betrug ge-
horcht ihr. Auch kann das Wissen von einem Wissen das Wissen
um eine Thatsache der Natur nie ersetzen; letzteres ist eben ein Wissen
von ganz anderer Art; denn hier steht der Mensch nicht dem Menschen,
sondern einem inkommensurablen Wesen gegenüber, einem Wesen,
über das er gar keine Macht besitzt, und welches man im Gegensatz
zum ewig kombinierenden, durcheinanderwürfelnden, anthropomorphisch
zurechtlegenden Menschenhirn, als die ungeschminkte, nackte, kalte,
ewige Wahrheit bezeichnen kann. Wie mannigfaltig, sowohl negativ
wie positiv, der Gewinn eines derartigen Verkehrs für die Erweiterung
und Ausbildung des Menschengeistes sein muss, leuchtet gewiss von
selbst ein. Dass der spezielle Naturforscher auf empirischem Gebiete
durch das genaue Ermessen seines Nichtwissens den ersten Schritt zur
Erweiterung seines Wissens thut, wurde schon früher gezeigt;2) man

1) In einer Gesellschaft von Hochschullehrern hörte ich vor einigen Jahren
psychologisch-physiologische Themata besprechen; anknüpfend an die Lokalisation
der Sprachfunktionen in der Broca’schen Stirnwindung meinte der eine Gelehrte,
jedes einzelne Wort sei »in einer besonderen Zelle lokalisiert«; er verglich diese
Einrichtung sinnreich mit einem Schrank, der etliche Tausend Schübchen besässe,
die auf Wunsch auf- und zugeschoben werden könnten (etwa also wie die heutigen
Automaten-Restaurants); es hörte sich ganz reizend an und nicht eine Spur minder
plausibel als »Tischchen deck’ dich«. Da meine positiven Kenntnisse in Bezug auf
die Histologie des Gehirnes sich auf vor Jahren gehörte Vorträge und Demon-
strationen beschränken, also äusserst gering sind, und ich aus näherer Anschauung
nur die Elemente der groben Anatomie dieses Organes kenne, bat ich den be-
treffenden Herrn um genauere Auskunft, wobei es sich aber herausstellte, dass er
in seinem Leben keinen Seciersaal betreten und überhaupt niemals ein Gehirn
(ausser auf den schönen Holzschnitten einiger Lehrbücher) gesehen hatte: daher
ahnte er so ganz und gar nicht die Grenze zwischen dem Bekannten und dem
Unbekannten.
2) Siehe S. 766.
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[906/0385] Die Entstehung einer neuen Welt. was sie nicht wissen, bis in jedem einzelnen Falle exakte Forschung ihnen gezeigt hat, bis wohin ihr Wissen sich erstreckt. Das hört sich sehr einfach und terre à terre an, ist aber so wenig von selbst einleuchtend, und so schwer in die Praxis des Denkens zu übertragen, dass ich vermute, kaum irgend Jemand, der die Schule der Natur- wissenschaft nicht durchgemacht hat, wird die Bemerkung De Can- dolle’s vollständig würdigen. 1) Auf jedem anderen Gebiete nämlich ist weitgehende Selbsttäuschung bis zu völliger Verblendung möglich; die Thatsachen selber sind meist fragmentarisch oder fraglich, sie be- sitzen nicht Dauer und Unveränderlichkeit, Wiederholung ist darum unmöglich, Experiment ausgeschlossen, Leidenschaft waltet, Betrug ge- horcht ihr. Auch kann das Wissen von einem Wissen das Wissen um eine Thatsache der Natur nie ersetzen; letzteres ist eben ein Wissen von ganz anderer Art; denn hier steht der Mensch nicht dem Menschen, sondern einem inkommensurablen Wesen gegenüber, einem Wesen, über das er gar keine Macht besitzt, und welches man im Gegensatz zum ewig kombinierenden, durcheinanderwürfelnden, anthropomorphisch zurechtlegenden Menschenhirn, als die ungeschminkte, nackte, kalte, ewige Wahrheit bezeichnen kann. Wie mannigfaltig, sowohl negativ wie positiv, der Gewinn eines derartigen Verkehrs für die Erweiterung und Ausbildung des Menschengeistes sein muss, leuchtet gewiss von selbst ein. Dass der spezielle Naturforscher auf empirischem Gebiete durch das genaue Ermessen seines Nichtwissens den ersten Schritt zur Erweiterung seines Wissens thut, wurde schon früher gezeigt; 2) man 1) In einer Gesellschaft von Hochschullehrern hörte ich vor einigen Jahren psychologisch-physiologische Themata besprechen; anknüpfend an die Lokalisation der Sprachfunktionen in der Broca’schen Stirnwindung meinte der eine Gelehrte, jedes einzelne Wort sei »in einer besonderen Zelle lokalisiert«; er verglich diese Einrichtung sinnreich mit einem Schrank, der etliche Tausend Schübchen besässe, die auf Wunsch auf- und zugeschoben werden könnten (etwa also wie die heutigen Automaten-Restaurants); es hörte sich ganz reizend an und nicht eine Spur minder plausibel als »Tischchen deck’ dich«. Da meine positiven Kenntnisse in Bezug auf die Histologie des Gehirnes sich auf vor Jahren gehörte Vorträge und Demon- strationen beschränken, also äusserst gering sind, und ich aus näherer Anschauung nur die Elemente der groben Anatomie dieses Organes kenne, bat ich den be- treffenden Herrn um genauere Auskunft, wobei es sich aber herausstellte, dass er in seinem Leben keinen Seciersaal betreten und überhaupt niemals ein Gehirn (ausser auf den schönen Holzschnitten einiger Lehrbücher) gesehen hatte: daher ahnte er so ganz und gar nicht die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. 2) Siehe S. 766.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 906. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/385>, abgerufen am 29.04.2024.