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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
begreift aber leicht, welchen Einfluss eine derartige Schulung auch auf
philosophisches Denken ausüben muss; ein ernster Mann wird nicht
mehr mit Thomas von Aquin über die Beschaffenheit der Körper in der
Hölle reden, wenn er sich wird gestehen müssen, über ihre Beschaffen-
heit auf Erden fast nichts zu wissen. Wichtiger noch ist die positive
Bereicherung, auf die ich auch schon früher hingewiesen habe (S. 752),
welche daher kommt, dass die Natur allein erfinderisch ist. "Einzig
die hervorbringende Natur besitzt unzweideutiges, gewisses Genie",
sagt Goethe.1) Die Natur giebt uns Stoff und Idee zugleich; das be-
zeugt jede Gestalt. Und nimmt man nun Natur nicht in dem engen
Kinderstubensinn einer Stern- und Tierkunde, sondern in dem weiten
Verstand, den ich bei Besprechung der einzelnen Philosophen ange-
deutet habe, so wird man Goethe's Ausspruch überall bestätigt finden;
die Natur ist das unzweideutige Genie, die eigentliche Erfinderin.
Wobei aber Folgendes wohl zu beachten ist: Natur offenbart sich nicht
allein im Regenbogen, auch nicht allein in dem Auge, das diesen wahr-
nimmt, sondern auch im Gemüt, das ihn bewundert und in der Vernunft,
die ihm nachsinnt. Jedoch, damit das Auge, das Gemüt, die Vernunft,
mit Bewusstsein das Genie der Natur erblicken und sich einverleiben, be-
darf es einer besonderen Anlage und einer besonderen Schulung. Hier
wie anderwärts handelt es sich also im letzten Grunde um eine Orien-
tierung des Geistes;2) ist diese erst erfolgt, so fördern Zeit und Übung
das Übrige mit Notwendigkeit zu Tage. Mit Schiller kann man hier
sprechen: "Die Richtung ist zugleich die Vollendung und der Weg
ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist."3) So hätte z. B. Locke's
philosophisches Lebenswerk, sein Versuch über den menschlichen Ver-
stand, jederzeit innerhalb der vorangegangenen 2500 Jahre vollbracht
werden können, hätte nur irgend ein Mensch die Neigung gespürt,
sich an die Natur zu wenden. Gelehrsamkeit, Instrumente, mathe-
matische oder sonstige Entdeckungen werden nicht beansprucht, sondern
einzig treue Selbstbeobachtung, Befragen des Selbst in derselben Art,
wie man ein anderes Naturphänomen beobachten und befragen würde.
Was hätte den ungleich bedeutenderen Aristoteles verhindert, dasselbe zu
leisten, wenn nicht die anthropomorphische Oberflächlichkeit hellenischer
Naturbeobachtung, die wie ein Komet mit hyperbolischer Bahn sich

1) Vorträge zum Entwurf einer Einleitung in die vergleichende Anatomie, II.
2) S. 686, 765.
3) Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Bf. 9.
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Weltanschauung und Religion.
begreift aber leicht, welchen Einfluss eine derartige Schulung auch auf
philosophisches Denken ausüben muss; ein ernster Mann wird nicht
mehr mit Thomas von Aquin über die Beschaffenheit der Körper in der
Hölle reden, wenn er sich wird gestehen müssen, über ihre Beschaffen-
heit auf Erden fast nichts zu wissen. Wichtiger noch ist die positive
Bereicherung, auf die ich auch schon früher hingewiesen habe (S. 752),
welche daher kommt, dass die Natur allein erfinderisch ist. »Einzig
die hervorbringende Natur besitzt unzweideutiges, gewisses Genie«,
sagt Goethe.1) Die Natur giebt uns Stoff und Idee zugleich; das be-
zeugt jede Gestalt. Und nimmt man nun Natur nicht in dem engen
Kinderstubensinn einer Stern- und Tierkunde, sondern in dem weiten
Verstand, den ich bei Besprechung der einzelnen Philosophen ange-
deutet habe, so wird man Goethe’s Ausspruch überall bestätigt finden;
die Natur ist das unzweideutige Genie, die eigentliche Erfinderin.
Wobei aber Folgendes wohl zu beachten ist: Natur offenbart sich nicht
allein im Regenbogen, auch nicht allein in dem Auge, das diesen wahr-
nimmt, sondern auch im Gemüt, das ihn bewundert und in der Vernunft,
die ihm nachsinnt. Jedoch, damit das Auge, das Gemüt, die Vernunft,
mit Bewusstsein das Genie der Natur erblicken und sich einverleiben, be-
darf es einer besonderen Anlage und einer besonderen Schulung. Hier
wie anderwärts handelt es sich also im letzten Grunde um eine Orien-
tierung des Geistes;2) ist diese erst erfolgt, so fördern Zeit und Übung
das Übrige mit Notwendigkeit zu Tage. Mit Schiller kann man hier
sprechen: »Die Richtung ist zugleich die Vollendung und der Weg
ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist.«3) So hätte z. B. Locke’s
philosophisches Lebenswerk, sein Versuch über den menschlichen Ver-
stand, jederzeit innerhalb der vorangegangenen 2500 Jahre vollbracht
werden können, hätte nur irgend ein Mensch die Neigung gespürt,
sich an die Natur zu wenden. Gelehrsamkeit, Instrumente, mathe-
matische oder sonstige Entdeckungen werden nicht beansprucht, sondern
einzig treue Selbstbeobachtung, Befragen des Selbst in derselben Art,
wie man ein anderes Naturphänomen beobachten und befragen würde.
Was hätte den ungleich bedeutenderen Aristoteles verhindert, dasselbe zu
leisten, wenn nicht die anthropomorphische Oberflächlichkeit hellenischer
Naturbeobachtung, die wie ein Komet mit hyperbolischer Bahn sich

1) Vorträge zum Entwurf einer Einleitung in die vergleichende Anatomie, II.
2) S. 686, 765.
3) Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Bf. 9.
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[907/0386] Weltanschauung und Religion. begreift aber leicht, welchen Einfluss eine derartige Schulung auch auf philosophisches Denken ausüben muss; ein ernster Mann wird nicht mehr mit Thomas von Aquin über die Beschaffenheit der Körper in der Hölle reden, wenn er sich wird gestehen müssen, über ihre Beschaffen- heit auf Erden fast nichts zu wissen. Wichtiger noch ist die positive Bereicherung, auf die ich auch schon früher hingewiesen habe (S. 752), welche daher kommt, dass die Natur allein erfinderisch ist. »Einzig die hervorbringende Natur besitzt unzweideutiges, gewisses Genie«, sagt Goethe. 1) Die Natur giebt uns Stoff und Idee zugleich; das be- zeugt jede Gestalt. Und nimmt man nun Natur nicht in dem engen Kinderstubensinn einer Stern- und Tierkunde, sondern in dem weiten Verstand, den ich bei Besprechung der einzelnen Philosophen ange- deutet habe, so wird man Goethe’s Ausspruch überall bestätigt finden; die Natur ist das unzweideutige Genie, die eigentliche Erfinderin. Wobei aber Folgendes wohl zu beachten ist: Natur offenbart sich nicht allein im Regenbogen, auch nicht allein in dem Auge, das diesen wahr- nimmt, sondern auch im Gemüt, das ihn bewundert und in der Vernunft, die ihm nachsinnt. Jedoch, damit das Auge, das Gemüt, die Vernunft, mit Bewusstsein das Genie der Natur erblicken und sich einverleiben, be- darf es einer besonderen Anlage und einer besonderen Schulung. Hier wie anderwärts handelt es sich also im letzten Grunde um eine Orien- tierung des Geistes; 2) ist diese erst erfolgt, so fördern Zeit und Übung das Übrige mit Notwendigkeit zu Tage. Mit Schiller kann man hier sprechen: »Die Richtung ist zugleich die Vollendung und der Weg ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist.« 3) So hätte z. B. Locke’s philosophisches Lebenswerk, sein Versuch über den menschlichen Ver- stand, jederzeit innerhalb der vorangegangenen 2500 Jahre vollbracht werden können, hätte nur irgend ein Mensch die Neigung gespürt, sich an die Natur zu wenden. Gelehrsamkeit, Instrumente, mathe- matische oder sonstige Entdeckungen werden nicht beansprucht, sondern einzig treue Selbstbeobachtung, Befragen des Selbst in derselben Art, wie man ein anderes Naturphänomen beobachten und befragen würde. Was hätte den ungleich bedeutenderen Aristoteles verhindert, dasselbe zu leisten, wenn nicht die anthropomorphische Oberflächlichkeit hellenischer Naturbeobachtung, die wie ein Komet mit hyperbolischer Bahn sich 1) Vorträge zum Entwurf einer Einleitung in die vergleichende Anatomie, II. 2) S. 686, 765. 3) Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Bf. 9. 58*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 907. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/386>, abgerufen am 29.04.2024.