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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Welt, hier scheidet die Wissenschaft des Relativen von der Dogmatik
des Absoluten; hier auch (darüber gebe man sich keiner Selbsttäuschung
hin) zweigt die Religion der Erfahrung auf immer von historischer
Religion ab. Stellen wir uns nun auf den germanischen Standpunkt
und begreifen wir die zwingende Notwendigkeit von Descartes' Ein-
sicht -- durch welche erst Naturwissenschaft als ein zusammenhängendes
Ganzes möglich wird -- so muss uns Folgendes auffallen: jener Locke,
der den eigenen Verstand in seiner Entstehung und Verrichtung restlos
analysieren will, ist doch selber ein Bestandteil der Natur und folglich
insofern auch eine Maschine; er gleicht also einigermassen einer Lo-
komotive, die sich auseinandernehmen möchte, um ihre Funktionierung
zu begreifen; dass ein derartiges Vorhaben vollständig gelingen könnte,
ist nicht anzunehmen, denn um selber nicht aufzuhören zu sein, müsste
die Lokomotive in Thätigkeit bleiben, sie könnte also nur einmal hier,
einmal dort einen Teil des Apparates durch Experiment prüfen, viel-
leicht auch einiges Nebensächliche zerlegen, alles Wichtigste könnte
sie aber nie berühren; ihr Wissen wäre also eher eine Beschreibung
als ein Durchdringen, und diese Beschreibung selbst (d. h. die Auf-
fassung der Lokomotive von ihrem eigenen Wesen) wäre nicht eine
erschöpfende, den Gegenstand beherrschende Darstellung, sondern sie
wäre durch den Bau der Lokomotive von vornherein bestimmt und
beschränkt. Ich weiss, der Vergleich hinkt stark, doch wenn er nur
hilft, genügt er. Nun haben wir aber gesehen, dass jenes Hinaus-
schauen des Descartes ebenfalls nur die Selbstbetrachtung der Natur,
d. h. ein Schauen nach innen bedeutet; folglich wird derselbe Ein-
wurf auch hier gültig sein. Daraus erhellt, dass wir nie entwirren
können, ob die Deutung der Natur als Mechanismus lediglich ein Ge-
setz des Menschengeistes ist oder auch ein aussermenschliches Gesetz.
Der scharfsinnige Locke hat das auch eingesehen und gesteht ausdrück-
lich: "das, was unsere Gedanken erfassen können, ist im Verhältnis
zu dem, was sie nicht erfassen können, kaum ein Punkt, fast Nichts".1)
Der Leser, der diesen Gedankengang weiter verfolgt, was ich hier leider
des Raumes wegen nicht kann, wird es begreifen, glaube ich, wenn
ich das Ergebnis in folgender Formel zusammenfasse: Unser Wissen
von der Natur
(Naturwissenschaft im umfassendsten Sinne des Wortes
und einschliesslich der wissenschaftlichen Philosophie) ist die immer
ausführlichere Darlegung eines Unwissbaren.

1) Essay concerning human Understanding, book 4, ch. 3, § 23.

Die Entstehung einer neuen Welt.
Welt, hier scheidet die Wissenschaft des Relativen von der Dogmatik
des Absoluten; hier auch (darüber gebe man sich keiner Selbsttäuschung
hin) zweigt die Religion der Erfahrung auf immer von historischer
Religion ab. Stellen wir uns nun auf den germanischen Standpunkt
und begreifen wir die zwingende Notwendigkeit von Descartes’ Ein-
sicht — durch welche erst Naturwissenschaft als ein zusammenhängendes
Ganzes möglich wird — so muss uns Folgendes auffallen: jener Locke,
der den eigenen Verstand in seiner Entstehung und Verrichtung restlos
analysieren will, ist doch selber ein Bestandteil der Natur und folglich
insofern auch eine Maschine; er gleicht also einigermassen einer Lo-
komotive, die sich auseinandernehmen möchte, um ihre Funktionierung
zu begreifen; dass ein derartiges Vorhaben vollständig gelingen könnte,
ist nicht anzunehmen, denn um selber nicht aufzuhören zu sein, müsste
die Lokomotive in Thätigkeit bleiben, sie könnte also nur einmal hier,
einmal dort einen Teil des Apparates durch Experiment prüfen, viel-
leicht auch einiges Nebensächliche zerlegen, alles Wichtigste könnte
sie aber nie berühren; ihr Wissen wäre also eher eine Beschreibung
als ein Durchdringen, und diese Beschreibung selbst (d. h. die Auf-
fassung der Lokomotive von ihrem eigenen Wesen) wäre nicht eine
erschöpfende, den Gegenstand beherrschende Darstellung, sondern sie
wäre durch den Bau der Lokomotive von vornherein bestimmt und
beschränkt. Ich weiss, der Vergleich hinkt stark, doch wenn er nur
hilft, genügt er. Nun haben wir aber gesehen, dass jenes Hinaus-
schauen des Descartes ebenfalls nur die Selbstbetrachtung der Natur,
d. h. ein Schauen nach innen bedeutet; folglich wird derselbe Ein-
wurf auch hier gültig sein. Daraus erhellt, dass wir nie entwirren
können, ob die Deutung der Natur als Mechanismus lediglich ein Ge-
setz des Menschengeistes ist oder auch ein aussermenschliches Gesetz.
Der scharfsinnige Locke hat das auch eingesehen und gesteht ausdrück-
lich: »das, was unsere Gedanken erfassen können, ist im Verhältnis
zu dem, was sie nicht erfassen können, kaum ein Punkt, fast Nichts«.1)
Der Leser, der diesen Gedankengang weiter verfolgt, was ich hier leider
des Raumes wegen nicht kann, wird es begreifen, glaube ich, wenn
ich das Ergebnis in folgender Formel zusammenfasse: Unser Wissen
von der Natur
(Naturwissenschaft im umfassendsten Sinne des Wortes
und einschliesslich der wissenschaftlichen Philosophie) ist die immer
ausführlichere Darlegung eines Unwissbaren.

1) Essay concerning human Understanding, book 4, ch. 3, § 23.
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[910/0389] Die Entstehung einer neuen Welt. Welt, hier scheidet die Wissenschaft des Relativen von der Dogmatik des Absoluten; hier auch (darüber gebe man sich keiner Selbsttäuschung hin) zweigt die Religion der Erfahrung auf immer von historischer Religion ab. Stellen wir uns nun auf den germanischen Standpunkt und begreifen wir die zwingende Notwendigkeit von Descartes’ Ein- sicht — durch welche erst Naturwissenschaft als ein zusammenhängendes Ganzes möglich wird — so muss uns Folgendes auffallen: jener Locke, der den eigenen Verstand in seiner Entstehung und Verrichtung restlos analysieren will, ist doch selber ein Bestandteil der Natur und folglich insofern auch eine Maschine; er gleicht also einigermassen einer Lo- komotive, die sich auseinandernehmen möchte, um ihre Funktionierung zu begreifen; dass ein derartiges Vorhaben vollständig gelingen könnte, ist nicht anzunehmen, denn um selber nicht aufzuhören zu sein, müsste die Lokomotive in Thätigkeit bleiben, sie könnte also nur einmal hier, einmal dort einen Teil des Apparates durch Experiment prüfen, viel- leicht auch einiges Nebensächliche zerlegen, alles Wichtigste könnte sie aber nie berühren; ihr Wissen wäre also eher eine Beschreibung als ein Durchdringen, und diese Beschreibung selbst (d. h. die Auf- fassung der Lokomotive von ihrem eigenen Wesen) wäre nicht eine erschöpfende, den Gegenstand beherrschende Darstellung, sondern sie wäre durch den Bau der Lokomotive von vornherein bestimmt und beschränkt. Ich weiss, der Vergleich hinkt stark, doch wenn er nur hilft, genügt er. Nun haben wir aber gesehen, dass jenes Hinaus- schauen des Descartes ebenfalls nur die Selbstbetrachtung der Natur, d. h. ein Schauen nach innen bedeutet; folglich wird derselbe Ein- wurf auch hier gültig sein. Daraus erhellt, dass wir nie entwirren können, ob die Deutung der Natur als Mechanismus lediglich ein Ge- setz des Menschengeistes ist oder auch ein aussermenschliches Gesetz. Der scharfsinnige Locke hat das auch eingesehen und gesteht ausdrück- lich: »das, was unsere Gedanken erfassen können, ist im Verhältnis zu dem, was sie nicht erfassen können, kaum ein Punkt, fast Nichts«. 1) Der Leser, der diesen Gedankengang weiter verfolgt, was ich hier leider des Raumes wegen nicht kann, wird es begreifen, glaube ich, wenn ich das Ergebnis in folgender Formel zusammenfasse: Unser Wissen von der Natur (Naturwissenschaft im umfassendsten Sinne des Wortes und einschliesslich der wissenschaftlichen Philosophie) ist die immer ausführlichere Darlegung eines Unwissbaren. 1) Essay concerning human Understanding, book 4, ch. 3, § 23.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 910. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/389>, abgerufen am 29.04.2024.