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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
Grunde liegen,1) so wird eine geringe Überlegung überzeugen, dass
auch hier jenes selbe Hindernis im Wege liegt, wie bei Locke, und es
unmöglich macht, der Folgerung unbedingte Gültigkeit zuzuerkennen;
denn der Denker Descartes steht doch nicht als losgelöster Beob-
achter da, sondern ist selber ein Stück Natur: hier wieder ist es
also Natur, die Natur betrachtet. Wir mögen schauen wohin wir
wollen, wir schauen immer nach innen. Ja, wenn wir mit den Juden
und mit den christlichen Kirchendoktoren dem Menschen einen über-
natürlichen Ursprung, ein aussernatürliches Wesen zuschreiben wollen,
dann freilich besteht das Dilemma nicht, sondern dann stehen sich
Mensch und Natur wie Faust und Helena gegenüber und können sich
"über des Throns aufgepolsterter Herrlichkeit" die Hand reichen, Faust,
der wirklich Lebendige, der Mensch, Helena, die scheinbar lebendige,
scheinbar verständige, scheinbar redende und liebende Schattengestalt,
die Natur.2) Das ist der springende Punkt; hier trennt sich Welt von

1) Dass Descartes, der sämtliche geistige Erscheinungen des tierischen Lebens
"durch Prinzipien der Physik erklärt" (siehe die Principia philosophiae, T. 2, § 64 mit
Hinzuziehung der ersten Paragraphen), dem Menschen aus Rücksichten der Recht-
gläubigkeit ausserdem eine "Seele" zuschrieb, hat für seine Weltanschauung um
so weniger zu bedeuten, als er die gänzliche Trennung von Leib und Seele postuliert,
so dass keinerlei Verbindung zwischen beiden besteht, der Mensch also nicht
minder als jede andere sinnliche Erscheinung durchwegs mechanisch muss erklärt
werden können. Es wäre sehr zu wünschen, dass man uns endlich einmal mit
dem langweiligen, dummen cogito ergo sum in Ruhe liesse; nicht psychologische
Analyse macht Descartes' Grösse aus; im Gegenteil, er hat hier mit der grossartigen
Ungeniertheit des Genies, und zum dauernden Schrecken aller kleinen logischen
Lumpen, rechts und links die Bedenklichkeiten bei Seite geschoben und so sich
freie Bahn durchgehauen zu dem einen grossen Prinzip, dass jede Naturdeutung
notwendig mechanisch sein muss, um überhaupt dem Menschenhirn (wenigstens
dem Hirn des Homo europaeus) begreiflich zu sein.
2) Ein derartiges Schattendasein schreibt Thomas von Aquin thatsächlich
den Tieren zu: "Die unvernünftigen Tiere besitzen einen von der göttlichen Ver-
nunft ihnen eingepflanzten Instinkt, vermöge dessen sie innere und äussere ver-
nunftähnliche
Regungen haben". Man sieht, welche Kluft diese Automaten
des Thomas von den Automaten des Descartes trennt; denn Thomas ist bestrebt
-- gleich seinen heutigen Nachfolgern, dem Jesuiten Wasmann (S. 59) und der
ganzen katholischen Naturlehre -- aus den Tieren Maschinen zu machen, damit
der semitische Wahngedanke einer lediglich für den Menschen erschaffenen Natur
noch aufrecht erhalten werden könne, wogegen Descartes die grosse Einsicht
vertritt, dass jegliches Geschehen als mechanischer Vorgang gedeutet werden müsse,
die Lebensphänomene des Tieres und des Menschen nicht weniger als das Leben
der Sonne.

Weltanschauung und Religion.
Grunde liegen,1) so wird eine geringe Überlegung überzeugen, dass
auch hier jenes selbe Hindernis im Wege liegt, wie bei Locke, und es
unmöglich macht, der Folgerung unbedingte Gültigkeit zuzuerkennen;
denn der Denker Descartes steht doch nicht als losgelöster Beob-
achter da, sondern ist selber ein Stück Natur: hier wieder ist es
also Natur, die Natur betrachtet. Wir mögen schauen wohin wir
wollen, wir schauen immer nach innen. Ja, wenn wir mit den Juden
und mit den christlichen Kirchendoktoren dem Menschen einen über-
natürlichen Ursprung, ein aussernatürliches Wesen zuschreiben wollen,
dann freilich besteht das Dilemma nicht, sondern dann stehen sich
Mensch und Natur wie Faust und Helena gegenüber und können sich
»über des Throns aufgepolsterter Herrlichkeit« die Hand reichen, Faust,
der wirklich Lebendige, der Mensch, Helena, die scheinbar lebendige,
scheinbar verständige, scheinbar redende und liebende Schattengestalt,
die Natur.2) Das ist der springende Punkt; hier trennt sich Welt von

1) Dass Descartes, der sämtliche geistige Erscheinungen des tierischen Lebens
»durch Prinzipien der Physik erklärt« (siehe die Principia philosophiae, T. 2, § 64 mit
Hinzuziehung der ersten Paragraphen), dem Menschen aus Rücksichten der Recht-
gläubigkeit ausserdem eine »Seele« zuschrieb, hat für seine Weltanschauung um
so weniger zu bedeuten, als er die gänzliche Trennung von Leib und Seele postuliert,
so dass keinerlei Verbindung zwischen beiden besteht, der Mensch also nicht
minder als jede andere sinnliche Erscheinung durchwegs mechanisch muss erklärt
werden können. Es wäre sehr zu wünschen, dass man uns endlich einmal mit
dem langweiligen, dummen cogito ergo sum in Ruhe liesse; nicht psychologische
Analyse macht Descartes’ Grösse aus; im Gegenteil, er hat hier mit der grossartigen
Ungeniertheit des Genies, und zum dauernden Schrecken aller kleinen logischen
Lumpen, rechts und links die Bedenklichkeiten bei Seite geschoben und so sich
freie Bahn durchgehauen zu dem einen grossen Prinzip, dass jede Naturdeutung
notwendig mechanisch sein muss, um überhaupt dem Menschenhirn (wenigstens
dem Hirn des Homo europaeus) begreiflich zu sein.
2) Ein derartiges Schattendasein schreibt Thomas von Aquin thatsächlich
den Tieren zu: »Die unvernünftigen Tiere besitzen einen von der göttlichen Ver-
nunft ihnen eingepflanzten Instinkt, vermöge dessen sie innere und äussere ver-
nunftähnliche
Regungen haben«. Man sieht, welche Kluft diese Automaten
des Thomas von den Automaten des Descartes trennt; denn Thomas ist bestrebt
— gleich seinen heutigen Nachfolgern, dem Jesuiten Wasmann (S. 59) und der
ganzen katholischen Naturlehre — aus den Tieren Maschinen zu machen, damit
der semitische Wahngedanke einer lediglich für den Menschen erschaffenen Natur
noch aufrecht erhalten werden könne, wogegen Descartes die grosse Einsicht
vertritt, dass jegliches Geschehen als mechanischer Vorgang gedeutet werden müsse,
die Lebensphänomene des Tieres und des Menschen nicht weniger als das Leben
der Sonne.
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[909/0388] Weltanschauung und Religion. Grunde liegen, 1) so wird eine geringe Überlegung überzeugen, dass auch hier jenes selbe Hindernis im Wege liegt, wie bei Locke, und es unmöglich macht, der Folgerung unbedingte Gültigkeit zuzuerkennen; denn der Denker Descartes steht doch nicht als losgelöster Beob- achter da, sondern ist selber ein Stück Natur: hier wieder ist es also Natur, die Natur betrachtet. Wir mögen schauen wohin wir wollen, wir schauen immer nach innen. Ja, wenn wir mit den Juden und mit den christlichen Kirchendoktoren dem Menschen einen über- natürlichen Ursprung, ein aussernatürliches Wesen zuschreiben wollen, dann freilich besteht das Dilemma nicht, sondern dann stehen sich Mensch und Natur wie Faust und Helena gegenüber und können sich »über des Throns aufgepolsterter Herrlichkeit« die Hand reichen, Faust, der wirklich Lebendige, der Mensch, Helena, die scheinbar lebendige, scheinbar verständige, scheinbar redende und liebende Schattengestalt, die Natur. 2) Das ist der springende Punkt; hier trennt sich Welt von 1) Dass Descartes, der sämtliche geistige Erscheinungen des tierischen Lebens »durch Prinzipien der Physik erklärt« (siehe die Principia philosophiae, T. 2, § 64 mit Hinzuziehung der ersten Paragraphen), dem Menschen aus Rücksichten der Recht- gläubigkeit ausserdem eine »Seele« zuschrieb, hat für seine Weltanschauung um so weniger zu bedeuten, als er die gänzliche Trennung von Leib und Seele postuliert, so dass keinerlei Verbindung zwischen beiden besteht, der Mensch also nicht minder als jede andere sinnliche Erscheinung durchwegs mechanisch muss erklärt werden können. Es wäre sehr zu wünschen, dass man uns endlich einmal mit dem langweiligen, dummen cogito ergo sum in Ruhe liesse; nicht psychologische Analyse macht Descartes’ Grösse aus; im Gegenteil, er hat hier mit der grossartigen Ungeniertheit des Genies, und zum dauernden Schrecken aller kleinen logischen Lumpen, rechts und links die Bedenklichkeiten bei Seite geschoben und so sich freie Bahn durchgehauen zu dem einen grossen Prinzip, dass jede Naturdeutung notwendig mechanisch sein muss, um überhaupt dem Menschenhirn (wenigstens dem Hirn des Homo europaeus) begreiflich zu sein. 2) Ein derartiges Schattendasein schreibt Thomas von Aquin thatsächlich den Tieren zu: »Die unvernünftigen Tiere besitzen einen von der göttlichen Ver- nunft ihnen eingepflanzten Instinkt, vermöge dessen sie innere und äussere ver- nunftähnliche Regungen haben«. Man sieht, welche Kluft diese Automaten des Thomas von den Automaten des Descartes trennt; denn Thomas ist bestrebt — gleich seinen heutigen Nachfolgern, dem Jesuiten Wasmann (S. 59) und der ganzen katholischen Naturlehre — aus den Tieren Maschinen zu machen, damit der semitische Wahngedanke einer lediglich für den Menschen erschaffenen Natur noch aufrecht erhalten werden könne, wogegen Descartes die grosse Einsicht vertritt, dass jegliches Geschehen als mechanischer Vorgang gedeutet werden müsse, die Lebensphänomene des Tieres und des Menschen nicht weniger als das Leben der Sonne.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 909. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/388>, abgerufen am 29.04.2024.