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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
was er durch diesen Einfall zerstörte, noch wozu er den Weg er-
öffnete; denn er fährt dann trotzdem fort, zwei Naturen zu unter-
scheiden (wie hätte er als vernünftiger Mensch umhin können?), nicht
jedoch eine denkende und eine körperliche, sondern eine denkende
und eine nicht denkende.1) Damit verlässt Locke das Gebiet der
Empirie, das Gebiet des echten naturforschenden Denkens. Denn sage
ich von einer Erscheinung aus, sie ist "körperlich", so sage ich etwas
aus, was die Erfahrung mich lehrt, sage ich aber, sie ist "nichtdenkend",
so prädiziere ich etwas, was ich unmöglich je beweisen kann. Derselbe
Mann, der soeben die feine Bemerkung gemacht hat, das Denken
könnte eine Eigenschaft des Stoffes überhaupt sein, will jetzt zwischen
denkenden und nichtdenkenden Körpern unterscheiden! Kein Wunder,
dass die beiden Irrgedanken des absoluten (und in Folge dessen rein
materialistischen) Idealismus und des aus einer symbolischen Hypothese
hervorgegangenen (also rein "idealen") Materialismus beide hier an-
knüpfen, wo Locke so arg gestolpert ist. Doch Locke selber war
nicht wie so viele seiner Nachfolger bis zum heutigen Tage an der-
selben Stelle zu Boden gefallen, sondern war sofort mit der Naivetät
des Genies zu einer seiner glänzendsten Leistungen geschritten: näm-
lich zu dem Nachweis, dass aus nichtdenkender Materie, und sei sie
noch so reich mit Bewegung ausgestattet, niemals Denken entstehen
könne; das sei genau ebenso schlechthin unmöglich, meint er, wie
dass aus nichts etwas werde.2) Hier trifft also, wie man sieht, Locke
mit Descartes (und das heisst mit den Prinzipien eines streng wissen-
schaftlichen Denkens) wieder vollkommen zusammen. Gerade Locke's
besonderer, individueller Gedankengang gewann nun, bei aller Fehler-
haftigkeit,3) weithin reichende Bedeutung, denn er war geeignet, den
letzten Rest von übernatürlichem Dogmatismus zu zerstören und weckte
den die Natur befragenden Philosophen zu voller Besinnung auf. Hier
musste Dieser entweder ganz verzichten, weiter zu gehen, sein Unter-
nehmen also als gescheitert betrachten und vor den Absolutisten die
Waffen strecken, oder aber er musste das Problem in seiner ganzen

dem Einfluss Schelling's) schreibt: "Die Materie kann nie ohne Geist, der Geist
nie ohne Materie existieren", so wird man gut thun, mit Onkel Toby ihm darauf
zu antworten: "That's more than I know, Sir!"
1) cogitative und incogitative, Buch 4., Kap. 10, § 9.
2) Buch 4., Kap. 10, § 10.
3) "C'est le privilege du vrai genie, et surtout du genie qui ouvre une carriere,
de faire impunement de grandes fautes
" (Voltaire).

Die Entstehung einer neuen Welt.
was er durch diesen Einfall zerstörte, noch wozu er den Weg er-
öffnete; denn er fährt dann trotzdem fort, zwei Naturen zu unter-
scheiden (wie hätte er als vernünftiger Mensch umhin können?), nicht
jedoch eine denkende und eine körperliche, sondern eine denkende
und eine nicht denkende.1) Damit verlässt Locke das Gebiet der
Empirie, das Gebiet des echten naturforschenden Denkens. Denn sage
ich von einer Erscheinung aus, sie ist »körperlich«, so sage ich etwas
aus, was die Erfahrung mich lehrt, sage ich aber, sie ist »nichtdenkend«,
so prädiziere ich etwas, was ich unmöglich je beweisen kann. Derselbe
Mann, der soeben die feine Bemerkung gemacht hat, das Denken
könnte eine Eigenschaft des Stoffes überhaupt sein, will jetzt zwischen
denkenden und nichtdenkenden Körpern unterscheiden! Kein Wunder,
dass die beiden Irrgedanken des absoluten (und in Folge dessen rein
materialistischen) Idealismus und des aus einer symbolischen Hypothese
hervorgegangenen (also rein »idealen«) Materialismus beide hier an-
knüpfen, wo Locke so arg gestolpert ist. Doch Locke selber war
nicht wie so viele seiner Nachfolger bis zum heutigen Tage an der-
selben Stelle zu Boden gefallen, sondern war sofort mit der Naivetät
des Genies zu einer seiner glänzendsten Leistungen geschritten: näm-
lich zu dem Nachweis, dass aus nichtdenkender Materie, und sei sie
noch so reich mit Bewegung ausgestattet, niemals Denken entstehen
könne; das sei genau ebenso schlechthin unmöglich, meint er, wie
dass aus nichts etwas werde.2) Hier trifft also, wie man sieht, Locke
mit Descartes (und das heisst mit den Prinzipien eines streng wissen-
schaftlichen Denkens) wieder vollkommen zusammen. Gerade Locke’s
besonderer, individueller Gedankengang gewann nun, bei aller Fehler-
haftigkeit,3) weithin reichende Bedeutung, denn er war geeignet, den
letzten Rest von übernatürlichem Dogmatismus zu zerstören und weckte
den die Natur befragenden Philosophen zu voller Besinnung auf. Hier
musste Dieser entweder ganz verzichten, weiter zu gehen, sein Unter-
nehmen also als gescheitert betrachten und vor den Absolutisten die
Waffen strecken, oder aber er musste das Problem in seiner ganzen

dem Einfluss Schelling’s) schreibt: »Die Materie kann nie ohne Geist, der Geist
nie ohne Materie existieren«, so wird man gut thun, mit Onkel Toby ihm darauf
zu antworten: »That’s more than I know, Sir!«
1) cogitative und incogitative, Buch 4., Kap. 10, § 9.
2) Buch 4., Kap. 10, § 10.
3) »C’est le privilège du vrai génie, et surtout du génie qui ouvre une carrière,
de faire impunément de grandes fautes
« (Voltaire).
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[916/0395] Die Entstehung einer neuen Welt. was er durch diesen Einfall zerstörte, noch wozu er den Weg er- öffnete; denn er fährt dann trotzdem fort, zwei Naturen zu unter- scheiden (wie hätte er als vernünftiger Mensch umhin können?), nicht jedoch eine denkende und eine körperliche, sondern eine denkende und eine nicht denkende. 1) Damit verlässt Locke das Gebiet der Empirie, das Gebiet des echten naturforschenden Denkens. Denn sage ich von einer Erscheinung aus, sie ist »körperlich«, so sage ich etwas aus, was die Erfahrung mich lehrt, sage ich aber, sie ist »nichtdenkend«, so prädiziere ich etwas, was ich unmöglich je beweisen kann. Derselbe Mann, der soeben die feine Bemerkung gemacht hat, das Denken könnte eine Eigenschaft des Stoffes überhaupt sein, will jetzt zwischen denkenden und nichtdenkenden Körpern unterscheiden! Kein Wunder, dass die beiden Irrgedanken des absoluten (und in Folge dessen rein materialistischen) Idealismus und des aus einer symbolischen Hypothese hervorgegangenen (also rein »idealen«) Materialismus beide hier an- knüpfen, wo Locke so arg gestolpert ist. Doch Locke selber war nicht wie so viele seiner Nachfolger bis zum heutigen Tage an der- selben Stelle zu Boden gefallen, sondern war sofort mit der Naivetät des Genies zu einer seiner glänzendsten Leistungen geschritten: näm- lich zu dem Nachweis, dass aus nichtdenkender Materie, und sei sie noch so reich mit Bewegung ausgestattet, niemals Denken entstehen könne; das sei genau ebenso schlechthin unmöglich, meint er, wie dass aus nichts etwas werde. 2) Hier trifft also, wie man sieht, Locke mit Descartes (und das heisst mit den Prinzipien eines streng wissen- schaftlichen Denkens) wieder vollkommen zusammen. Gerade Locke’s besonderer, individueller Gedankengang gewann nun, bei aller Fehler- haftigkeit, 3) weithin reichende Bedeutung, denn er war geeignet, den letzten Rest von übernatürlichem Dogmatismus zu zerstören und weckte den die Natur befragenden Philosophen zu voller Besinnung auf. Hier musste Dieser entweder ganz verzichten, weiter zu gehen, sein Unter- nehmen also als gescheitert betrachten und vor den Absolutisten die Waffen strecken, oder aber er musste das Problem in seiner ganzen 2) 1) cogitative und incogitative, Buch 4., Kap. 10, § 9. 2) Buch 4., Kap. 10, § 10. 3) »C’est le privilège du vrai génie, et surtout du génie qui ouvre une carrière, de faire impunément de grandes fautes« (Voltaire). 2) dem Einfluss Schelling’s) schreibt: »Die Materie kann nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existieren«, so wird man gut thun, mit Onkel Toby ihm darauf zu antworten: »That’s more than I know, Sir!«

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 916. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/395>, abgerufen am 29.04.2024.