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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
Tiefe erfassen und das hiess notgedrungen metaphysischen Boden
betreten.

Der Begriff "Metaphysik" hat so viel gerechtfertigten AbscheuDas
metaphysische
Problem.

auf sich gehäuft, dass man das Wort nicht gerne anwendet; es wirkt
als Vogelscheuche. Eigentlich brauchen wir das Wort auch gar nicht --
oder brauchten es wenigstens in dem Falle nicht, wenn es ausgemacht
wäre, dass die alte Metaphysik kein Existenzrecht mehr besässe, und
die neue Metaphysik -- die der Naturforscher -- einfach "Philosophie"
wäre. Aristoteles nannte jenen Teil seines Lehrgebäudes, den man
später Metaphysik getauft hat, Theologie; das war das richtige Wort,
denn es war die Lehre vom Theos im Gegensatz zur Lehre von der
Physis, Gott als Gegensatz zur Natur. Von ihm an bis auf Hume
war Metaphysik Theologie, d. h. sie war eine Sammlung von unbe-
wiesenen apodiktischen Sätzen, die entweder aus direkter göttlicher
Offenbarung hergeleitet wurden, oder aber aus indirekter, indem man
nämlich von der Voraussetzung ausging, die menschliche Vernunft
selber sei übernatürlich und vermöge in Folge dessen, kraft eigener
Überlegung, jede Wahrheit zu entdecken: Metaphysik gründete sich
also nie unmittelbar auf Erfahrung und bezog sich auch nicht unmittel-
bar auf sie, sondern sie war entweder Inspiration oder Ratiocination, ent-
weder Eingebung oder reiner Vernunftschluss. Hume nun (1711--1776),
lebhaft angeregt durch Locke's paradoxe Ergebnisse, verlangte aus-
drücklich, Metaphysik solle aufhören, Theologie zu sein und solle
Wissenschaft werden.1) Wohl gelang es ihm selber nicht ganz, dieses
Programm durchzuführen, denn er war mehr beanlagt, falsche Wissen-
schaft zu zerstören als wahre Wissenschaft aufzubauen; doch gab er
eine so kräftige Anregung in dem bezeichneten Sinne, dass er Immanuel
Kant "aus dem dogmatischen Schlummer aufweckte". Von nun an
haben wir unter dem Wort Metaphysik etwas ganz anderes zu verstehen
als ehedem. Es bedeutet nicht einen Gegensatz zur Erfahrung, sondern
die Besinnung über die uns durch die Erfahrung gelieferten Thatsachen
und ihre Verknüpfung zu einer bestimmten Weltanschauung. Vier Worte
Kant's enthalten die Essenz dessen, was Metaphysik jetzt bedeutet;

1) A treatise of human nature. Einleitung. Das Dilemma der Descartes und
Locke nimmt Hume in diese selbe Einleitung als ein evidentes Ergebnis genauen
Denkens auf und meint: "jede Hypothese, welche die letzten Gründe der mensch-
lichen Natur aufzudecken vorgiebt, ist ohne Weiteres als eine Vermessenheit und
Chimäre abzuweisen." Anstatt wie Jene aber eine hypothetische Lösung zu ver-
suchen, verharrt er in prinzipieller Skepsis bezüglich dieser "Gründe".

Weltanschauung und Religion.
Tiefe erfassen und das hiess notgedrungen metaphysischen Boden
betreten.

Der Begriff »Metaphysik« hat so viel gerechtfertigten AbscheuDas
metaphysische
Problem.

auf sich gehäuft, dass man das Wort nicht gerne anwendet; es wirkt
als Vogelscheuche. Eigentlich brauchen wir das Wort auch gar nicht —
oder brauchten es wenigstens in dem Falle nicht, wenn es ausgemacht
wäre, dass die alte Metaphysik kein Existenzrecht mehr besässe, und
die neue Metaphysik — die der Naturforscher — einfach »Philosophie«
wäre. Aristoteles nannte jenen Teil seines Lehrgebäudes, den man
später Metaphysik getauft hat, Theologie; das war das richtige Wort,
denn es war die Lehre vom Theos im Gegensatz zur Lehre von der
Physis, Gott als Gegensatz zur Natur. Von ihm an bis auf Hume
war Metaphysik Theologie, d. h. sie war eine Sammlung von unbe-
wiesenen apodiktischen Sätzen, die entweder aus direkter göttlicher
Offenbarung hergeleitet wurden, oder aber aus indirekter, indem man
nämlich von der Voraussetzung ausging, die menschliche Vernunft
selber sei übernatürlich und vermöge in Folge dessen, kraft eigener
Überlegung, jede Wahrheit zu entdecken: Metaphysik gründete sich
also nie unmittelbar auf Erfahrung und bezog sich auch nicht unmittel-
bar auf sie, sondern sie war entweder Inspiration oder Ratiocination, ent-
weder Eingebung oder reiner Vernunftschluss. Hume nun (1711—1776),
lebhaft angeregt durch Locke’s paradoxe Ergebnisse, verlangte aus-
drücklich, Metaphysik solle aufhören, Theologie zu sein und solle
Wissenschaft werden.1) Wohl gelang es ihm selber nicht ganz, dieses
Programm durchzuführen, denn er war mehr beanlagt, falsche Wissen-
schaft zu zerstören als wahre Wissenschaft aufzubauen; doch gab er
eine so kräftige Anregung in dem bezeichneten Sinne, dass er Immanuel
Kant »aus dem dogmatischen Schlummer aufweckte«. Von nun an
haben wir unter dem Wort Metaphysik etwas ganz anderes zu verstehen
als ehedem. Es bedeutet nicht einen Gegensatz zur Erfahrung, sondern
die Besinnung über die uns durch die Erfahrung gelieferten Thatsachen
und ihre Verknüpfung zu einer bestimmten Weltanschauung. Vier Worte
Kant’s enthalten die Essenz dessen, was Metaphysik jetzt bedeutet;

1) A treatise of human nature. Einleitung. Das Dilemma der Descartes und
Locke nimmt Hume in diese selbe Einleitung als ein evidentes Ergebnis genauen
Denkens auf und meint: »jede Hypothese, welche die letzten Gründe der mensch-
lichen Natur aufzudecken vorgiebt, ist ohne Weiteres als eine Vermessenheit und
Chimäre abzuweisen.« Anstatt wie Jene aber eine hypothetische Lösung zu ver-
suchen, verharrt er in prinzipieller Skepsis bezüglich dieser »Gründe«.
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[917/0396] Weltanschauung und Religion. Tiefe erfassen und das hiess notgedrungen metaphysischen Boden betreten. Der Begriff »Metaphysik« hat so viel gerechtfertigten Abscheu auf sich gehäuft, dass man das Wort nicht gerne anwendet; es wirkt als Vogelscheuche. Eigentlich brauchen wir das Wort auch gar nicht — oder brauchten es wenigstens in dem Falle nicht, wenn es ausgemacht wäre, dass die alte Metaphysik kein Existenzrecht mehr besässe, und die neue Metaphysik — die der Naturforscher — einfach »Philosophie« wäre. Aristoteles nannte jenen Teil seines Lehrgebäudes, den man später Metaphysik getauft hat, Theologie; das war das richtige Wort, denn es war die Lehre vom Theos im Gegensatz zur Lehre von der Physis, Gott als Gegensatz zur Natur. Von ihm an bis auf Hume war Metaphysik Theologie, d. h. sie war eine Sammlung von unbe- wiesenen apodiktischen Sätzen, die entweder aus direkter göttlicher Offenbarung hergeleitet wurden, oder aber aus indirekter, indem man nämlich von der Voraussetzung ausging, die menschliche Vernunft selber sei übernatürlich und vermöge in Folge dessen, kraft eigener Überlegung, jede Wahrheit zu entdecken: Metaphysik gründete sich also nie unmittelbar auf Erfahrung und bezog sich auch nicht unmittel- bar auf sie, sondern sie war entweder Inspiration oder Ratiocination, ent- weder Eingebung oder reiner Vernunftschluss. Hume nun (1711—1776), lebhaft angeregt durch Locke’s paradoxe Ergebnisse, verlangte aus- drücklich, Metaphysik solle aufhören, Theologie zu sein und solle Wissenschaft werden. 1) Wohl gelang es ihm selber nicht ganz, dieses Programm durchzuführen, denn er war mehr beanlagt, falsche Wissen- schaft zu zerstören als wahre Wissenschaft aufzubauen; doch gab er eine so kräftige Anregung in dem bezeichneten Sinne, dass er Immanuel Kant »aus dem dogmatischen Schlummer aufweckte«. Von nun an haben wir unter dem Wort Metaphysik etwas ganz anderes zu verstehen als ehedem. Es bedeutet nicht einen Gegensatz zur Erfahrung, sondern die Besinnung über die uns durch die Erfahrung gelieferten Thatsachen und ihre Verknüpfung zu einer bestimmten Weltanschauung. Vier Worte Kant’s enthalten die Essenz dessen, was Metaphysik jetzt bedeutet; Das metaphysische Problem. 1) A treatise of human nature. Einleitung. Das Dilemma der Descartes und Locke nimmt Hume in diese selbe Einleitung als ein evidentes Ergebnis genauen Denkens auf und meint: »jede Hypothese, welche die letzten Gründe der mensch- lichen Natur aufzudecken vorgiebt, ist ohne Weiteres als eine Vermessenheit und Chimäre abzuweisen.« Anstatt wie Jene aber eine hypothetische Lösung zu ver- suchen, verharrt er in prinzipieller Skepsis bezüglich dieser »Gründe«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 917. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/396>, abgerufen am 29.04.2024.