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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Metaphysik ist die Antwort auf die Frage: "wie ist Erfahrung möglich"?
Diese Frage ergab sich unmittelbar aus dem oben geschilderten Dilemma,
zu welchem ehrliche, naturforschende Philosophie geführt hatte. Zwingt
uns die Sorge um echte Wissenschaft der Körper, das Denken von der
körperlichen Erscheinung völlig zu trennen, wie gelangt dann das
Denken zu einer Erfahrung der körperlichen Dinge? Oder aber, fasse ich
dasselbe Problem als Psycholog an und lege das Denken dem Körper-
lichen (das mechanischen Gesetzen gehorcht) als Attribut bei, vernichte
ich dann nicht durch diesen Gewaltstreich echte (das heisst mechanische)
Wissenschaft ohne das Geringste zur Lösung des Problems beigetragen
zu haben? Die Besinnung hierüber wird uns namentlich zu einer
Besinnung über uns selbst führen, da diese verschiedenen Urteile in
uns selber wurzeln, und die Antwort auf die Frage, "wie ist Er-
fahrung möglich"? wird nicht gegeben werden können, ohne zugleich
die Grundlinien einer Weltanschauung hinzuzeichnen. Vielleicht wird
die Frage innerhalb gewisser Grenzen eine verschiedene Beantwortung
zulassen, doch der Kardinalunterschied wird fortan immer sein: ob
diese Frage, die aus rein naturwissenschaftlichen Erwägungen sich er-
geben hat, auch wissenschaftlich beantwortet, oder nach der Methode
der alten Theologen einfach zerhauen wird zu Gunsten eines beliebigen
Vernunftdogmas.1) Erstere Methode fördert zugleich Wissenschaft und
Religion, letztere vernichtet beide; erstere bereichert Kultur und Wissen,
gleichviel ob man alle Ergebnisse eines bestimmten Philosophen (z. B.
eines Kant) stichhaltig findet oder nicht, letztere ist antigermanisch und

1) Da Kant der hervorragendste Vertreter der rein wissenschaftlichen Be-
antwortung ist, und unwissende oder boshafte Skribenten noch immer das Publikum
mit der Behauptung irreführen, die Philosophie der Fichte und Hegel stehe in
einem organischen Zusammenhang mit der Kant's, wodurch jedes wahre Ver-
ständnis und jede ernste Vertiefung unserer Weltanschauung unmöglich wird,
so mache ich den philosophisch minder gebildeten Leser darauf aufmerksam,
dass Kant in einer feierlichen Erklärung des Jahres 1799 Fichte's Lehre als ein
"gänzlich unhaltbares System" gebrandmarkt und ausserdem kurz darauf aufmerksam
gemacht hat, dass zwischen seiner "kritischen Philosophie" (die kritische Besinnung
nämlich über die durch die wissenschaftliche Erforschung der körperlichen und der
denkenden Natur gewonnenen Ergebnisse) und derartiger "Scholastik" (so nennt er
Fichte's Philosophie) keinerlei Verwandtschaft bestehe. Die philosophische Wider-
legung dieser Neoscholastik hatte Kant lange, ehe Fichte zu schreiben begann,
geliefert, denn sie atmet aus jeder Seite seiner Kritik der reinen Vernunft; man
sehe speziell § 27 der Analytik der Begriffe, und vergleiche hierzu namentlich
auch die prächtige kleine Schrift aus dem Jahre 1796: Von einem neuerdings er-
hobenen vornehmen Ton in der Philosophie.

Die Entstehung einer neuen Welt.
Metaphysik ist die Antwort auf die Frage: »wie ist Erfahrung möglich«?
Diese Frage ergab sich unmittelbar aus dem oben geschilderten Dilemma,
zu welchem ehrliche, naturforschende Philosophie geführt hatte. Zwingt
uns die Sorge um echte Wissenschaft der Körper, das Denken von der
körperlichen Erscheinung völlig zu trennen, wie gelangt dann das
Denken zu einer Erfahrung der körperlichen Dinge? Oder aber, fasse ich
dasselbe Problem als Psycholog an und lege das Denken dem Körper-
lichen (das mechanischen Gesetzen gehorcht) als Attribut bei, vernichte
ich dann nicht durch diesen Gewaltstreich echte (das heisst mechanische)
Wissenschaft ohne das Geringste zur Lösung des Problems beigetragen
zu haben? Die Besinnung hierüber wird uns namentlich zu einer
Besinnung über uns selbst führen, da diese verschiedenen Urteile in
uns selber wurzeln, und die Antwort auf die Frage, »wie ist Er-
fahrung möglich«? wird nicht gegeben werden können, ohne zugleich
die Grundlinien einer Weltanschauung hinzuzeichnen. Vielleicht wird
die Frage innerhalb gewisser Grenzen eine verschiedene Beantwortung
zulassen, doch der Kardinalunterschied wird fortan immer sein: ob
diese Frage, die aus rein naturwissenschaftlichen Erwägungen sich er-
geben hat, auch wissenschaftlich beantwortet, oder nach der Methode
der alten Theologen einfach zerhauen wird zu Gunsten eines beliebigen
Vernunftdogmas.1) Erstere Methode fördert zugleich Wissenschaft und
Religion, letztere vernichtet beide; erstere bereichert Kultur und Wissen,
gleichviel ob man alle Ergebnisse eines bestimmten Philosophen (z. B.
eines Kant) stichhaltig findet oder nicht, letztere ist antigermanisch und

1) Da Kant der hervorragendste Vertreter der rein wissenschaftlichen Be-
antwortung ist, und unwissende oder boshafte Skribenten noch immer das Publikum
mit der Behauptung irreführen, die Philosophie der Fichte und Hegel stehe in
einem organischen Zusammenhang mit der Kant’s, wodurch jedes wahre Ver-
ständnis und jede ernste Vertiefung unserer Weltanschauung unmöglich wird,
so mache ich den philosophisch minder gebildeten Leser darauf aufmerksam,
dass Kant in einer feierlichen Erklärung des Jahres 1799 Fichte’s Lehre als ein
»gänzlich unhaltbares System« gebrandmarkt und ausserdem kurz darauf aufmerksam
gemacht hat, dass zwischen seiner »kritischen Philosophie« (die kritische Besinnung
nämlich über die durch die wissenschaftliche Erforschung der körperlichen und der
denkenden Natur gewonnenen Ergebnisse) und derartiger »Scholastik« (so nennt er
Fichte’s Philosophie) keinerlei Verwandtschaft bestehe. Die philosophische Wider-
legung dieser Neoscholastik hatte Kant lange, ehe Fichte zu schreiben begann,
geliefert, denn sie atmet aus jeder Seite seiner Kritik der reinen Vernunft; man
sehe speziell § 27 der Analytik der Begriffe, und vergleiche hierzu namentlich
auch die prächtige kleine Schrift aus dem Jahre 1796: Von einem neuerdings er-
hobenen vornehmen Ton in der Philosophie.
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[918/0397] Die Entstehung einer neuen Welt. Metaphysik ist die Antwort auf die Frage: »wie ist Erfahrung möglich«? Diese Frage ergab sich unmittelbar aus dem oben geschilderten Dilemma, zu welchem ehrliche, naturforschende Philosophie geführt hatte. Zwingt uns die Sorge um echte Wissenschaft der Körper, das Denken von der körperlichen Erscheinung völlig zu trennen, wie gelangt dann das Denken zu einer Erfahrung der körperlichen Dinge? Oder aber, fasse ich dasselbe Problem als Psycholog an und lege das Denken dem Körper- lichen (das mechanischen Gesetzen gehorcht) als Attribut bei, vernichte ich dann nicht durch diesen Gewaltstreich echte (das heisst mechanische) Wissenschaft ohne das Geringste zur Lösung des Problems beigetragen zu haben? Die Besinnung hierüber wird uns namentlich zu einer Besinnung über uns selbst führen, da diese verschiedenen Urteile in uns selber wurzeln, und die Antwort auf die Frage, »wie ist Er- fahrung möglich«? wird nicht gegeben werden können, ohne zugleich die Grundlinien einer Weltanschauung hinzuzeichnen. Vielleicht wird die Frage innerhalb gewisser Grenzen eine verschiedene Beantwortung zulassen, doch der Kardinalunterschied wird fortan immer sein: ob diese Frage, die aus rein naturwissenschaftlichen Erwägungen sich er- geben hat, auch wissenschaftlich beantwortet, oder nach der Methode der alten Theologen einfach zerhauen wird zu Gunsten eines beliebigen Vernunftdogmas. 1) Erstere Methode fördert zugleich Wissenschaft und Religion, letztere vernichtet beide; erstere bereichert Kultur und Wissen, gleichviel ob man alle Ergebnisse eines bestimmten Philosophen (z. B. eines Kant) stichhaltig findet oder nicht, letztere ist antigermanisch und 1) Da Kant der hervorragendste Vertreter der rein wissenschaftlichen Be- antwortung ist, und unwissende oder boshafte Skribenten noch immer das Publikum mit der Behauptung irreführen, die Philosophie der Fichte und Hegel stehe in einem organischen Zusammenhang mit der Kant’s, wodurch jedes wahre Ver- ständnis und jede ernste Vertiefung unserer Weltanschauung unmöglich wird, so mache ich den philosophisch minder gebildeten Leser darauf aufmerksam, dass Kant in einer feierlichen Erklärung des Jahres 1799 Fichte’s Lehre als ein »gänzlich unhaltbares System« gebrandmarkt und ausserdem kurz darauf aufmerksam gemacht hat, dass zwischen seiner »kritischen Philosophie« (die kritische Besinnung nämlich über die durch die wissenschaftliche Erforschung der körperlichen und der denkenden Natur gewonnenen Ergebnisse) und derartiger »Scholastik« (so nennt er Fichte’s Philosophie) keinerlei Verwandtschaft bestehe. Die philosophische Wider- legung dieser Neoscholastik hatte Kant lange, ehe Fichte zu schreiben begann, geliefert, denn sie atmet aus jeder Seite seiner Kritik der reinen Vernunft; man sehe speziell § 27 der Analytik der Begriffe, und vergleiche hierzu namentlich auch die prächtige kleine Schrift aus dem Jahre 1796: Von einem neuerdings er- hobenen vornehmen Ton in der Philosophie.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 918. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/397>, abgerufen am 29.04.2024.