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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
mich hindern, ihn fortzusetzen".1) Das hat er gehalten. Dieses Ver-
trauen in die eigenen Kräfte war zugleich die Einsicht, dass wir uns
auf dem rechten Wege befanden, und sofort begann er -- ein zweiter
Luther, ein zweiter Kopernikus -- das uns Fremde hinwegzusäubern:

Was euch das Inn're stört,
Dürft ihr nicht leiden!

Nichts kann verkehrter sein als die vielverbreitete Sitte, Kant aus ein
oder zwei metaphysischen Werken kennen zu wollen; alle Welt führt
sie im Munde und kaum einer unter zehntausend versteht sie, und
zwar nicht, weil sie unverständlich sind, sondern weil man eine der-
artige Erscheinung wie Kant's nur aus ihrem gesamten Wirken be-
greifen kann. Wer das versucht, wird bald gewahr werden, dass Kant's
Weltanschauung überall, in allen seinen Schriften steckt, und dass seine
Metaphysik nur von Demjenigen mit Verständnis aufgenommen werden
kann, der mit seiner Naturwissenschaft vertraut ist.2) Denn Kant ist
immer und überall Naturforscher. Und so sehen wir ihn denn gleich
am Anfang seiner Laufbahn, in seiner Allgemeinen Naturgeschichte
des Himmels,
eifrig beschäftigt, den Gott der Genesis und die uns so
fest anhaftende aristotelische Theologie aus unserer Naturbetrachtung
hinauszukehren. Er weist da haarscharf nach, dass die kirchliche
Auffassung Gottes nötige: "die ganze Natur in Wunder zu ver-
kehren"; in diesem Falle bleibe der seit zwei Jahrhunderten mit so
glänzendem Erfolg arbeitenden Naturforschung nichts weiter übrig
als einzukehren und "vor dem Richterstuhle der Religion eine feier-
liche Abbitte zu thun. Es wird in der That alsdann keine Natur
mehr sein; es wird nur ein Gott in der Maschine die Ver-
änderungen der Welt hervorbringen". Kant stellt uns, wie man
sieht, vor die Wahl: Gott oder Natur. An derselben Stelle zieht
er dann her über "die faule Weltweisheit, die unter einer andächtigen
Miene eine träge Unwissenheit zu verbergen trachte".3) Soviel über

1) Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, Vorrede § 7.
2) Siehe hierüber Kant's Äusserungen gegen Schlosser in dem 2. Abschnitt
des Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie: "Die kritische Philosophie, die
er zu kennen glaubt, ob er zwar nur die letzten, aus ihr hervorgehenden Re-
sultate angesehen hat, und die er, weil er die Schritte, die dahin führen, nicht mit sorg-
fältigem Fleisse durchgegangen war, notwendig missverstehen musste, empörte ihn".
3) In dem genannten Werke, Teil 2, Hauptstück 8. Dass Kant nicht gegen
den Glauben an eine Gottheit überhaupt und gegen Religion zu Felde zieht,
braucht kaum bemerkt zu werden, die genannte Schrift selbst, sowie sein ganzes

Die Entstehung einer neuen Welt.
mich hindern, ihn fortzusetzen«.1) Das hat er gehalten. Dieses Ver-
trauen in die eigenen Kräfte war zugleich die Einsicht, dass wir uns
auf dem rechten Wege befanden, und sofort begann er — ein zweiter
Luther, ein zweiter Kopernikus — das uns Fremde hinwegzusäubern:

Was euch das Inn’re stört,
Dürft ihr nicht leiden!

Nichts kann verkehrter sein als die vielverbreitete Sitte, Kant aus ein
oder zwei metaphysischen Werken kennen zu wollen; alle Welt führt
sie im Munde und kaum einer unter zehntausend versteht sie, und
zwar nicht, weil sie unverständlich sind, sondern weil man eine der-
artige Erscheinung wie Kant’s nur aus ihrem gesamten Wirken be-
greifen kann. Wer das versucht, wird bald gewahr werden, dass Kant’s
Weltanschauung überall, in allen seinen Schriften steckt, und dass seine
Metaphysik nur von Demjenigen mit Verständnis aufgenommen werden
kann, der mit seiner Naturwissenschaft vertraut ist.2) Denn Kant ist
immer und überall Naturforscher. Und so sehen wir ihn denn gleich
am Anfang seiner Laufbahn, in seiner Allgemeinen Naturgeschichte
des Himmels,
eifrig beschäftigt, den Gott der Genesis und die uns so
fest anhaftende aristotelische Theologie aus unserer Naturbetrachtung
hinauszukehren. Er weist da haarscharf nach, dass die kirchliche
Auffassung Gottes nötige: »die ganze Natur in Wunder zu ver-
kehren«; in diesem Falle bleibe der seit zwei Jahrhunderten mit so
glänzendem Erfolg arbeitenden Naturforschung nichts weiter übrig
als einzukehren und »vor dem Richterstuhle der Religion eine feier-
liche Abbitte zu thun. Es wird in der That alsdann keine Natur
mehr sein; es wird nur ein Gott in der Maschine die Ver-
änderungen der Welt hervorbringen«. Kant stellt uns, wie man
sieht, vor die Wahl: Gott oder Natur. An derselben Stelle zieht
er dann her über »die faule Weltweisheit, die unter einer andächtigen
Miene eine träge Unwissenheit zu verbergen trachte«.3) Soviel über

1) Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, Vorrede § 7.
2) Siehe hierüber Kant’s Äusserungen gegen Schlosser in dem 2. Abschnitt
des Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie: »Die kritische Philosophie, die
er zu kennen glaubt, ob er zwar nur die letzten, aus ihr hervorgehenden Re-
sultate angesehen hat, und die er, weil er die Schritte, die dahin führen, nicht mit sorg-
fältigem Fleisse durchgegangen war, notwendig missverstehen musste, empörte ihn«.
3) In dem genannten Werke, Teil 2, Hauptstück 8. Dass Kant nicht gegen
den Glauben an eine Gottheit überhaupt und gegen Religion zu Felde zieht,
braucht kaum bemerkt zu werden, die genannte Schrift selbst, sowie sein ganzes
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[924/0403] Die Entstehung einer neuen Welt. mich hindern, ihn fortzusetzen«. 1) Das hat er gehalten. Dieses Ver- trauen in die eigenen Kräfte war zugleich die Einsicht, dass wir uns auf dem rechten Wege befanden, und sofort begann er — ein zweiter Luther, ein zweiter Kopernikus — das uns Fremde hinwegzusäubern: Was euch das Inn’re stört, Dürft ihr nicht leiden! Nichts kann verkehrter sein als die vielverbreitete Sitte, Kant aus ein oder zwei metaphysischen Werken kennen zu wollen; alle Welt führt sie im Munde und kaum einer unter zehntausend versteht sie, und zwar nicht, weil sie unverständlich sind, sondern weil man eine der- artige Erscheinung wie Kant’s nur aus ihrem gesamten Wirken be- greifen kann. Wer das versucht, wird bald gewahr werden, dass Kant’s Weltanschauung überall, in allen seinen Schriften steckt, und dass seine Metaphysik nur von Demjenigen mit Verständnis aufgenommen werden kann, der mit seiner Naturwissenschaft vertraut ist. 2) Denn Kant ist immer und überall Naturforscher. Und so sehen wir ihn denn gleich am Anfang seiner Laufbahn, in seiner Allgemeinen Naturgeschichte des Himmels, eifrig beschäftigt, den Gott der Genesis und die uns so fest anhaftende aristotelische Theologie aus unserer Naturbetrachtung hinauszukehren. Er weist da haarscharf nach, dass die kirchliche Auffassung Gottes nötige: »die ganze Natur in Wunder zu ver- kehren«; in diesem Falle bleibe der seit zwei Jahrhunderten mit so glänzendem Erfolg arbeitenden Naturforschung nichts weiter übrig als einzukehren und »vor dem Richterstuhle der Religion eine feier- liche Abbitte zu thun. Es wird in der That alsdann keine Natur mehr sein; es wird nur ein Gott in der Maschine die Ver- änderungen der Welt hervorbringen«. Kant stellt uns, wie man sieht, vor die Wahl: Gott oder Natur. An derselben Stelle zieht er dann her über »die faule Weltweisheit, die unter einer andächtigen Miene eine träge Unwissenheit zu verbergen trachte«. 3) Soviel über 1) Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, Vorrede § 7. 2) Siehe hierüber Kant’s Äusserungen gegen Schlosser in dem 2. Abschnitt des Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie: »Die kritische Philosophie, die er zu kennen glaubt, ob er zwar nur die letzten, aus ihr hervorgehenden Re- sultate angesehen hat, und die er, weil er die Schritte, die dahin führen, nicht mit sorg- fältigem Fleisse durchgegangen war, notwendig missverstehen musste, empörte ihn«. 3) In dem genannten Werke, Teil 2, Hauptstück 8. Dass Kant nicht gegen den Glauben an eine Gottheit überhaupt und gegen Religion zu Felde zieht, braucht kaum bemerkt zu werden, die genannte Schrift selbst, sowie sein ganzes

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 924. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/403>, abgerufen am 27.04.2024.