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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
das Reinigungswerk, durch welches unser Denken endlich frei wurde,
frei, sich selber treu zu sein. Das war aber nicht hinreichend; es
genügte nicht, das Fremde entfernt zu haben, es musste das ganze
Gebiet des Eigenen in Besitz genommen werden und dies bedingte
wiederum vornehmlich zweierlei: eine gewaltige Erweiterung der Vor-
stellung "Natur" und eine tiefe Versenkung in das eigene "Ich". Beides
hat das positive Lebenswerk Kant's ausgemacht; bei beiden wirkte er
nicht allein, sondern arbeitete vielmehr -- wie jeder grosse Mann -- die
unbewussten, widerspruchsvollen Tendenzen seiner Zeitgenossen durch
zu voller Klarheit.

Die Erweiterung der Vorstellung "Natur" führte ohne WeiteresDie Natur
und das Ich.

zur Vertiefung des Begriffes "Ich"; das Eine ergab sich aus dem
Anderen.

Die Erweiterung der Vorstellung "Natur" kann man sich gar
nicht zu allumfassend denken. Im selben Augenblick, wo Kant seine
reine Vernunft vollendete, schrieb Goethe: "Natur! wir sind von ihr
umgeben und umschlungen; die Menschen sind alle in ihr, und sie in
allen; auch das Unnatürlichste ist Natur, auch die plumpste Philisterei
hat etwas von ihrem Genie. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie
nirgendwo recht".1) Aus dieser Erwägung mag man schliessen, wie
mächtig gerade an diesem Punkte unsere nach verschiedenen Richtungen
entfalteten Geistesanlagen zur Klärung und Vertiefung unserer neuen
Weltanschauung beitragen konnten. Hier fand in der That die Ver-
einigung statt. Die Humanisten (in dem weiten Sinne, den ich diesem
Worte oben beilegte) schlossen sich hier den Philosophen an. Was ich
in einem früheren Teil dieses Abschnittes über die rein-philosophische
Wirksamkeit dieser Gruppe schon andeutete, war ein wichtiger Bei-
trag.2) Dazu kamen die grossen Leistungen auf dem Gebiete der Ge-
schichte, Philologie, Archäologie, Naturbeschreibung. Denn die Natur,
die uns unmittelbar und von Jugend auf umgiebt -- menschliche und
aussermenschliche -- werden wir zunächst als "Natur" gar nicht ge-
wahr. Es war die Menge des neuen Materials, die grosse Erweiterung
der Vorstellungen, welche die Besinnung über uns selbst und über das
Verhältnis zwischen Mensch und Natur wachrief. Ein Herder mochte
sich in seinen letzten Lebensjahren in ohnmächtiger Wut des Miss-

späteres Wirken beweisen das Gegenteil; von dem historischen Jahve der Juden
aber sagt er sich hier ein für allemal los.
1) Die Natur (aus der Reihe Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen).
2) Siehe S. 895 fg.

Weltanschauung und Religion.
das Reinigungswerk, durch welches unser Denken endlich frei wurde,
frei, sich selber treu zu sein. Das war aber nicht hinreichend; es
genügte nicht, das Fremde entfernt zu haben, es musste das ganze
Gebiet des Eigenen in Besitz genommen werden und dies bedingte
wiederum vornehmlich zweierlei: eine gewaltige Erweiterung der Vor-
stellung »Natur« und eine tiefe Versenkung in das eigene »Ich«. Beides
hat das positive Lebenswerk Kant’s ausgemacht; bei beiden wirkte er
nicht allein, sondern arbeitete vielmehr — wie jeder grosse Mann — die
unbewussten, widerspruchsvollen Tendenzen seiner Zeitgenossen durch
zu voller Klarheit.

Die Erweiterung der Vorstellung »Natur« führte ohne WeiteresDie Natur
und das Ich.

zur Vertiefung des Begriffes »Ich«; das Eine ergab sich aus dem
Anderen.

Die Erweiterung der Vorstellung »Natur« kann man sich gar
nicht zu allumfassend denken. Im selben Augenblick, wo Kant seine
reine Vernunft vollendete, schrieb Goethe: »Natur! wir sind von ihr
umgeben und umschlungen; die Menschen sind alle in ihr, und sie in
allen; auch das Unnatürlichste ist Natur, auch die plumpste Philisterei
hat etwas von ihrem Genie. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie
nirgendwo recht«.1) Aus dieser Erwägung mag man schliessen, wie
mächtig gerade an diesem Punkte unsere nach verschiedenen Richtungen
entfalteten Geistesanlagen zur Klärung und Vertiefung unserer neuen
Weltanschauung beitragen konnten. Hier fand in der That die Ver-
einigung statt. Die Humanisten (in dem weiten Sinne, den ich diesem
Worte oben beilegte) schlossen sich hier den Philosophen an. Was ich
in einem früheren Teil dieses Abschnittes über die rein-philosophische
Wirksamkeit dieser Gruppe schon andeutete, war ein wichtiger Bei-
trag.2) Dazu kamen die grossen Leistungen auf dem Gebiete der Ge-
schichte, Philologie, Archäologie, Naturbeschreibung. Denn die Natur,
die uns unmittelbar und von Jugend auf umgiebt — menschliche und
aussermenschliche — werden wir zunächst als »Natur« gar nicht ge-
wahr. Es war die Menge des neuen Materials, die grosse Erweiterung
der Vorstellungen, welche die Besinnung über uns selbst und über das
Verhältnis zwischen Mensch und Natur wachrief. Ein Herder mochte
sich in seinen letzten Lebensjahren in ohnmächtiger Wut des Miss-

späteres Wirken beweisen das Gegenteil; von dem historischen Jahve der Juden
aber sagt er sich hier ein für allemal los.
1) Die Natur (aus der Reihe Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen).
2) Siehe S. 895 fg.
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[925/0404] Weltanschauung und Religion. das Reinigungswerk, durch welches unser Denken endlich frei wurde, frei, sich selber treu zu sein. Das war aber nicht hinreichend; es genügte nicht, das Fremde entfernt zu haben, es musste das ganze Gebiet des Eigenen in Besitz genommen werden und dies bedingte wiederum vornehmlich zweierlei: eine gewaltige Erweiterung der Vor- stellung »Natur« und eine tiefe Versenkung in das eigene »Ich«. Beides hat das positive Lebenswerk Kant’s ausgemacht; bei beiden wirkte er nicht allein, sondern arbeitete vielmehr — wie jeder grosse Mann — die unbewussten, widerspruchsvollen Tendenzen seiner Zeitgenossen durch zu voller Klarheit. Die Erweiterung der Vorstellung »Natur« führte ohne Weiteres zur Vertiefung des Begriffes »Ich«; das Eine ergab sich aus dem Anderen. Die Natur und das Ich. Die Erweiterung der Vorstellung »Natur« kann man sich gar nicht zu allumfassend denken. Im selben Augenblick, wo Kant seine reine Vernunft vollendete, schrieb Goethe: »Natur! wir sind von ihr umgeben und umschlungen; die Menschen sind alle in ihr, und sie in allen; auch das Unnatürlichste ist Natur, auch die plumpste Philisterei hat etwas von ihrem Genie. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht«. 1) Aus dieser Erwägung mag man schliessen, wie mächtig gerade an diesem Punkte unsere nach verschiedenen Richtungen entfalteten Geistesanlagen zur Klärung und Vertiefung unserer neuen Weltanschauung beitragen konnten. Hier fand in der That die Ver- einigung statt. Die Humanisten (in dem weiten Sinne, den ich diesem Worte oben beilegte) schlossen sich hier den Philosophen an. Was ich in einem früheren Teil dieses Abschnittes über die rein-philosophische Wirksamkeit dieser Gruppe schon andeutete, war ein wichtiger Bei- trag. 2) Dazu kamen die grossen Leistungen auf dem Gebiete der Ge- schichte, Philologie, Archäologie, Naturbeschreibung. Denn die Natur, die uns unmittelbar und von Jugend auf umgiebt — menschliche und aussermenschliche — werden wir zunächst als »Natur« gar nicht ge- wahr. Es war die Menge des neuen Materials, die grosse Erweiterung der Vorstellungen, welche die Besinnung über uns selbst und über das Verhältnis zwischen Mensch und Natur wachrief. Ein Herder mochte sich in seinen letzten Lebensjahren in ohnmächtiger Wut des Miss- 3) 1) Die Natur (aus der Reihe Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen). 2) Siehe S. 895 fg. 3) späteres Wirken beweisen das Gegenteil; von dem historischen Jahve der Juden aber sagt er sich hier ein für allemal los.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 925. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/404>, abgerufen am 27.04.2024.