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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
ich schon angedeutet habe, dass der Sieg einer wissenschaftlichen
mechanischen Naturauffassung notwendiger Weise den völligen Unter-
gang aller materialistischen Religion herbeiführt. Zugleich hatte ich
geschrieben: "der konsequente Mechanismus, wie wir Germanen ihn
geschaffen haben, verträgt einzig eine rein ideale, d. h. transscendente
Religion, wie sie Jesus Christus gelehrt hatte: das Himmelreich ist
inwendig in euch". Zu dieser letzten Vertiefung müssen wir jetzt
schreiten.

Wissenschaft
und Religion.

Goethe singt:

Im Innern ist ein Universum auch!

Eine der unausbleiblichen Folgen der naturwissenschaftlichen Denkart
war es, dass dieses innere Universum jetzt erst ins rechte helle Licht
gerückt wurde. Denn indem er die ganze menschliche Persönlichkeit
rückhaltlos zur Natur einbezog, d. h. sie als Naturgegenstand zu be-
trachten lernte, gelangte der Philosoph nach und nach zu zwei Ein-
sichten: erstens, wie wir soeben gesehen haben, dass der Mechanismus
der Natur in seinem eigenen, menschlichen Verstand seinen Ursprung
habe, zweitens aber, dass Mechanismus kein genügendes Erklärungs-
prinzip der Natur sei, da der Mensch im eigenen Innern ein Universum
entdeckt, welches völlig ausserhalb aller mechanischen Vorstellungen
bleibt. Descartes und Locke hatten diese Wahrnehmung, die ihnen
eine Gefahr für streng wissenschaftliche Erkenntnis zu bilden schien, da-
durch überwinden wollen, dass sie dieses unmechanische Universum als
ein Über- und Aussernatürliches betrachteten. Auf Grund eines so lahmen
und eigenmächtigen Kompromisses war keine lebendige Weltanschauung
zu gewinnen. Die wissenschaftliche Schulung, jene Gewohnheit, eine
strenge Grenzscheide zwischen dem, was man weiss und dem, was man
nicht weiss, zu ziehen, gebot einfach zu erklären: aus der allerunmittel-
barsten Erfahrung meines eigenen Lebens erkenne ich (ausser der mecha-
nischen Natur) das Dasein einer unmechanischen Natur. Diese kann
man vielleicht der Deutlichkeit halber die ideale Welt nennen, im
Gegensatz zur realen; nicht etwa, dass sie weniger real, d. h. wirk-
lich sei, im Gegenteil, sie ist offenbar das Allersicherste, was wir be-
sitzen, das einzige unmittelbar Gegebene, und es sollte insofern viel-
mehr die äussere Welt die "ideale" genannt werden; doch nennt man
jene die ideale, weil sie in Ideen, nicht in Gegenständen sich verkörpert.
Erkennt nun der Mensch -- nicht als Dogma sondern aus Erfahrung --
eine solche ideale Welt, führt ihn die Introspektion zur Überzeugung,

Die Entstehung einer neuen Welt.
ich schon angedeutet habe, dass der Sieg einer wissenschaftlichen
mechanischen Naturauffassung notwendiger Weise den völligen Unter-
gang aller materialistischen Religion herbeiführt. Zugleich hatte ich
geschrieben: »der konsequente Mechanismus, wie wir Germanen ihn
geschaffen haben, verträgt einzig eine rein ideale, d. h. transscendente
Religion, wie sie Jesus Christus gelehrt hatte: das Himmelreich ist
inwendig in euch«. Zu dieser letzten Vertiefung müssen wir jetzt
schreiten.

Wissenschaft
und Religion.

Goethe singt:

Im Innern ist ein Universum auch!

Eine der unausbleiblichen Folgen der naturwissenschaftlichen Denkart
war es, dass dieses innere Universum jetzt erst ins rechte helle Licht
gerückt wurde. Denn indem er die ganze menschliche Persönlichkeit
rückhaltlos zur Natur einbezog, d. h. sie als Naturgegenstand zu be-
trachten lernte, gelangte der Philosoph nach und nach zu zwei Ein-
sichten: erstens, wie wir soeben gesehen haben, dass der Mechanismus
der Natur in seinem eigenen, menschlichen Verstand seinen Ursprung
habe, zweitens aber, dass Mechanismus kein genügendes Erklärungs-
prinzip der Natur sei, da der Mensch im eigenen Innern ein Universum
entdeckt, welches völlig ausserhalb aller mechanischen Vorstellungen
bleibt. Descartes und Locke hatten diese Wahrnehmung, die ihnen
eine Gefahr für streng wissenschaftliche Erkenntnis zu bilden schien, da-
durch überwinden wollen, dass sie dieses unmechanische Universum als
ein Über- und Aussernatürliches betrachteten. Auf Grund eines so lahmen
und eigenmächtigen Kompromisses war keine lebendige Weltanschauung
zu gewinnen. Die wissenschaftliche Schulung, jene Gewohnheit, eine
strenge Grenzscheide zwischen dem, was man weiss und dem, was man
nicht weiss, zu ziehen, gebot einfach zu erklären: aus der allerunmittel-
barsten Erfahrung meines eigenen Lebens erkenne ich (ausser der mecha-
nischen Natur) das Dasein einer unmechanischen Natur. Diese kann
man vielleicht der Deutlichkeit halber die ideale Welt nennen, im
Gegensatz zur realen; nicht etwa, dass sie weniger real, d. h. wirk-
lich sei, im Gegenteil, sie ist offenbar das Allersicherste, was wir be-
sitzen, das einzige unmittelbar Gegebene, und es sollte insofern viel-
mehr die äussere Welt die »ideale« genannt werden; doch nennt man
jene die ideale, weil sie in Ideen, nicht in Gegenständen sich verkörpert.
Erkennt nun der Mensch — nicht als Dogma sondern aus Erfahrung —
eine solche ideale Welt, führt ihn die Introspektion zur Überzeugung,

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[932/0411] Die Entstehung einer neuen Welt. ich schon angedeutet habe, dass der Sieg einer wissenschaftlichen mechanischen Naturauffassung notwendiger Weise den völligen Unter- gang aller materialistischen Religion herbeiführt. Zugleich hatte ich geschrieben: »der konsequente Mechanismus, wie wir Germanen ihn geschaffen haben, verträgt einzig eine rein ideale, d. h. transscendente Religion, wie sie Jesus Christus gelehrt hatte: das Himmelreich ist inwendig in euch«. Zu dieser letzten Vertiefung müssen wir jetzt schreiten. Goethe singt: Im Innern ist ein Universum auch! Eine der unausbleiblichen Folgen der naturwissenschaftlichen Denkart war es, dass dieses innere Universum jetzt erst ins rechte helle Licht gerückt wurde. Denn indem er die ganze menschliche Persönlichkeit rückhaltlos zur Natur einbezog, d. h. sie als Naturgegenstand zu be- trachten lernte, gelangte der Philosoph nach und nach zu zwei Ein- sichten: erstens, wie wir soeben gesehen haben, dass der Mechanismus der Natur in seinem eigenen, menschlichen Verstand seinen Ursprung habe, zweitens aber, dass Mechanismus kein genügendes Erklärungs- prinzip der Natur sei, da der Mensch im eigenen Innern ein Universum entdeckt, welches völlig ausserhalb aller mechanischen Vorstellungen bleibt. Descartes und Locke hatten diese Wahrnehmung, die ihnen eine Gefahr für streng wissenschaftliche Erkenntnis zu bilden schien, da- durch überwinden wollen, dass sie dieses unmechanische Universum als ein Über- und Aussernatürliches betrachteten. Auf Grund eines so lahmen und eigenmächtigen Kompromisses war keine lebendige Weltanschauung zu gewinnen. Die wissenschaftliche Schulung, jene Gewohnheit, eine strenge Grenzscheide zwischen dem, was man weiss und dem, was man nicht weiss, zu ziehen, gebot einfach zu erklären: aus der allerunmittel- barsten Erfahrung meines eigenen Lebens erkenne ich (ausser der mecha- nischen Natur) das Dasein einer unmechanischen Natur. Diese kann man vielleicht der Deutlichkeit halber die ideale Welt nennen, im Gegensatz zur realen; nicht etwa, dass sie weniger real, d. h. wirk- lich sei, im Gegenteil, sie ist offenbar das Allersicherste, was wir be- sitzen, das einzige unmittelbar Gegebene, und es sollte insofern viel- mehr die äussere Welt die »ideale« genannt werden; doch nennt man jene die ideale, weil sie in Ideen, nicht in Gegenständen sich verkörpert. Erkennt nun der Mensch — nicht als Dogma sondern aus Erfahrung — eine solche ideale Welt, führt ihn die Introspektion zur Überzeugung,

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 932. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/411>, abgerufen am 27.04.2024.