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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
dass er selber nicht bloss und nicht einmal vorwiegend ein Mechanismus
ist, entdeckt er vielmehr in sich das, was Kant die "Spontaneität der Frei-
heit" nennt, ein durchaus Unmechanisches und Antimechanisches, eine
ganze, weite Welt, die man in einer gewissen Beziehung eine "un-
natürliche" Welt nennen könnte, so sehr bildet sie einen Gegensatz
zu jener mechanischen Gesetzmässigkeit, die wir aus der genauen Be-
trachtung der Natur kennen gelernt hatten, wie sollte er umhin können,
diese zweite Natur, die ihm mindestens ebenso offenbar und sicher ist
wie die erste, nun wieder hinauszuprojizieren auf diese erste, deren
innige Verknüpfung mit seinem Inneren die Wissenschaft ihm gelehrt
hat? Indem er das nun thut, entwächst aus der sicheren Erfahrungs-
thatsache der Freiheit ein neuer Begriff der Gottheit und ein neuer
Gedanke an eine moralische Weltordnung, d. h. eine neue Religion.
Neu freilich war es nicht, Gott nicht draussen unter den Sternen,
sondern drinnen im Busen zu suchen, Gott nicht als eine objektive
Notwendigkeit, sondern als ein subjektives Gebot zu glauben, Gott
nicht als mechanisches primum mobile zu postulieren, sondern im
Herzen zu erfahren -- ich citierte schon Eckhart's Mahnung: Gott
solle der Mensch ausser sich selber "nicht ensuoche" (S. 868), und von
da bis zu Schiller's "die Gottheit trägt der Mensch in sich" ist sie oft
genug gehört worden --, hier aber, in der kulturellen Entfaltung der ger-
manischen Weltanschauung, war diese Erkenntnis auf einem besonderen
Wege gewonnen worden, im Zusammenhang einer umfassenden und
durchaus objektiven Naturerforschung. Man war nicht von Gott aus-
gegangen, sondern war als letztes zu ihm hingelangt; Religion und
Wissenschaft waren innig, untrennbar verwachsen, nicht die eine auf
die andere zugestutzt und hineingedeutelt, sondern gleichsam die zwei
Phasen eines einzigen Phänomens: Wissenschaft, was die Welt mir
schenkt, Religion, was ich der Welt schenke.

Hier jedoch muss gleich eine tiefeinschneidende Bemerkung ge-
macht werden, sonst verflüchtigt sich der Erfolg der Verinnerlichung,
und gerade die Wissenschaft hat die Aufgabe, das zu verhindern. Denn
allerdings kann Niemand die Frage beantworten, was die Natur ausser-
halb der menschlichen Vorstellung, und ebensowenig, was der Mensch
ausserhalb der Natur sein mag, und daraus ergiebt sich bei schwärme-
rischen, ungeschulten Geistern die Neigung zu einer kritiklosen Iden-
tifizierung beider. Diese Identifizierung birgt nun Gefahren, die sich
aus folgender Erwägung von selbst ergeben. Während nämlich Natur-
forschung zu der Erkenntnis führt, dass alles Wissen von den Körpern,

Weltanschauung und Religion.
dass er selber nicht bloss und nicht einmal vorwiegend ein Mechanismus
ist, entdeckt er vielmehr in sich das, was Kant die »Spontaneität der Frei-
heit« nennt, ein durchaus Unmechanisches und Antimechanisches, eine
ganze, weite Welt, die man in einer gewissen Beziehung eine »un-
natürliche« Welt nennen könnte, so sehr bildet sie einen Gegensatz
zu jener mechanischen Gesetzmässigkeit, die wir aus der genauen Be-
trachtung der Natur kennen gelernt hatten, wie sollte er umhin können,
diese zweite Natur, die ihm mindestens ebenso offenbar und sicher ist
wie die erste, nun wieder hinauszuprojizieren auf diese erste, deren
innige Verknüpfung mit seinem Inneren die Wissenschaft ihm gelehrt
hat? Indem er das nun thut, entwächst aus der sicheren Erfahrungs-
thatsache der Freiheit ein neuer Begriff der Gottheit und ein neuer
Gedanke an eine moralische Weltordnung, d. h. eine neue Religion.
Neu freilich war es nicht, Gott nicht draussen unter den Sternen,
sondern drinnen im Busen zu suchen, Gott nicht als eine objektive
Notwendigkeit, sondern als ein subjektives Gebot zu glauben, Gott
nicht als mechanisches primum mobile zu postulieren, sondern im
Herzen zu erfahren — ich citierte schon Eckhart’s Mahnung: Gott
solle der Mensch ausser sich selber »nicht ensuoche« (S. 868), und von
da bis zu Schiller’s »die Gottheit trägt der Mensch in sich« ist sie oft
genug gehört worden —, hier aber, in der kulturellen Entfaltung der ger-
manischen Weltanschauung, war diese Erkenntnis auf einem besonderen
Wege gewonnen worden, im Zusammenhang einer umfassenden und
durchaus objektiven Naturerforschung. Man war nicht von Gott aus-
gegangen, sondern war als letztes zu ihm hingelangt; Religion und
Wissenschaft waren innig, untrennbar verwachsen, nicht die eine auf
die andere zugestutzt und hineingedeutelt, sondern gleichsam die zwei
Phasen eines einzigen Phänomens: Wissenschaft, was die Welt mir
schenkt, Religion, was ich der Welt schenke.

Hier jedoch muss gleich eine tiefeinschneidende Bemerkung ge-
macht werden, sonst verflüchtigt sich der Erfolg der Verinnerlichung,
und gerade die Wissenschaft hat die Aufgabe, das zu verhindern. Denn
allerdings kann Niemand die Frage beantworten, was die Natur ausser-
halb der menschlichen Vorstellung, und ebensowenig, was der Mensch
ausserhalb der Natur sein mag, und daraus ergiebt sich bei schwärme-
rischen, ungeschulten Geistern die Neigung zu einer kritiklosen Iden-
tifizierung beider. Diese Identifizierung birgt nun Gefahren, die sich
aus folgender Erwägung von selbst ergeben. Während nämlich Natur-
forschung zu der Erkenntnis führt, dass alles Wissen von den Körpern,

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[933/0412] Weltanschauung und Religion. dass er selber nicht bloss und nicht einmal vorwiegend ein Mechanismus ist, entdeckt er vielmehr in sich das, was Kant die »Spontaneität der Frei- heit« nennt, ein durchaus Unmechanisches und Antimechanisches, eine ganze, weite Welt, die man in einer gewissen Beziehung eine »un- natürliche« Welt nennen könnte, so sehr bildet sie einen Gegensatz zu jener mechanischen Gesetzmässigkeit, die wir aus der genauen Be- trachtung der Natur kennen gelernt hatten, wie sollte er umhin können, diese zweite Natur, die ihm mindestens ebenso offenbar und sicher ist wie die erste, nun wieder hinauszuprojizieren auf diese erste, deren innige Verknüpfung mit seinem Inneren die Wissenschaft ihm gelehrt hat? Indem er das nun thut, entwächst aus der sicheren Erfahrungs- thatsache der Freiheit ein neuer Begriff der Gottheit und ein neuer Gedanke an eine moralische Weltordnung, d. h. eine neue Religion. Neu freilich war es nicht, Gott nicht draussen unter den Sternen, sondern drinnen im Busen zu suchen, Gott nicht als eine objektive Notwendigkeit, sondern als ein subjektives Gebot zu glauben, Gott nicht als mechanisches primum mobile zu postulieren, sondern im Herzen zu erfahren — ich citierte schon Eckhart’s Mahnung: Gott solle der Mensch ausser sich selber »nicht ensuoche« (S. 868), und von da bis zu Schiller’s »die Gottheit trägt der Mensch in sich« ist sie oft genug gehört worden —, hier aber, in der kulturellen Entfaltung der ger- manischen Weltanschauung, war diese Erkenntnis auf einem besonderen Wege gewonnen worden, im Zusammenhang einer umfassenden und durchaus objektiven Naturerforschung. Man war nicht von Gott aus- gegangen, sondern war als letztes zu ihm hingelangt; Religion und Wissenschaft waren innig, untrennbar verwachsen, nicht die eine auf die andere zugestutzt und hineingedeutelt, sondern gleichsam die zwei Phasen eines einzigen Phänomens: Wissenschaft, was die Welt mir schenkt, Religion, was ich der Welt schenke. Hier jedoch muss gleich eine tiefeinschneidende Bemerkung ge- macht werden, sonst verflüchtigt sich der Erfolg der Verinnerlichung, und gerade die Wissenschaft hat die Aufgabe, das zu verhindern. Denn allerdings kann Niemand die Frage beantworten, was die Natur ausser- halb der menschlichen Vorstellung, und ebensowenig, was der Mensch ausserhalb der Natur sein mag, und daraus ergiebt sich bei schwärme- rischen, ungeschulten Geistern die Neigung zu einer kritiklosen Iden- tifizierung beider. Diese Identifizierung birgt nun Gefahren, die sich aus folgender Erwägung von selbst ergeben. Während nämlich Natur- forschung zu der Erkenntnis führt, dass alles Wissen von den Körpern,

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 933. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/412>, abgerufen am 27.04.2024.