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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
trotzdem es von dem scheinbar durchaus Konkreten, Realen ausgeht,
doch mit dem schlechthin Unbegreiflichen endet, ist der Fortgang auf
dem Gebiet der unmechanischen Welt der umgekehrte: das Unbegreif-
liche (sobald man philosophisch darüber nachsinnt) liegt hier nicht am
Ende der Bahn, sondern gleich am Anfang. Es ist der Begriff und
die Möglichkeit der Freiheit, die Denkbarkeit der Ausserzeitlichkeit, der
Ursprung des Gefühles sittlicher Verantwortlichkeit und Pflicht u. s. w.,
welches sich beim Verständnis nicht Eingang verschaffen kann, während
wir alle diese Dinge sehr gut begreifen, je weiter wir sie hinausverfolgen
in das Bereich des thatsächlich jeden Augenblick Erlebten. Die Freiheit
ist die sicherste aller Thatsachen der Erfahrung; das Ich steht ganz ausser-
halb der Zeit und merkt deren Fortgang nur an äusseren Erscheinungen;1)
das Gewissen, die Reue, das Pflichtgefühl sind noch strengere Herren als
der Hunger. Daher nun die Neigung des unmetaphysisch beanlagten
Menschen, den Unterschied zwischen den beiden Welten -- der Natur
von aussen und der Natur von innen, wie Goethe sie nennt -- zu
übersehen: die Freiheit z. B. in die Welt der Erscheinung hinaus zu
versetzen (als kosmischen Gott, Wunder u. s. w.), einen Anfang zu
supponieren (was den Begriff der Zeit aufhebt), die Moral auf be-
stimmte, historisch erlassene, jeder Zeit widerrufliche Gebote zu be-
gründen, (wodurch das Sittengesetz hinschwindet) u. s. w. Zwar hatten
die metaphysisch Beanlagten, die Arier, diesen Fehler nie begangen:2)
ihre Mythologien bezeugen eine wunderbare Vorausahnung metaphy-
sischer Erkenntnis, oder aber (denn das können wir mit genau dem-
selben Recht sagen) unsere wissenschaftliche Metaphysik bedeutet das
Wiederaufleben weithinblickender Mythologie; doch hat, wie die Ge-
schichte zeigt, diese höhere Ahnung vor der wuchtigen Behauptung
der minder begabten, nach dem blossen Sinnenschein urteilenden und
blindem historischen Aberglauben huldigenden Menschen nicht Stich
gehalten, und es giebt nur ein einziges Antidot, mächtig genug, uns zu
retten: unsere wissenschaftliche Weltanschauung. Aus der unkritischen
Identifizierung ergeben sich auch andere schale und darum schäd-
liche Systeme, sobald nämlich im Gegensatz zu dem soeben genannten
Hinausversetzen der inneren Erfahrung in die Welt der Erscheinung,

1) Das Älterwerden wird nur an dem Altern Anderer bemerkt oder aus dem
Auftreten von Gebrechen -- also äusserlich -- wahrgenommen; Stunden können
wie ein Augenblick verfliegen, wenige Sekunden das ausführliche Bild eines viel-
jährigen Lebens gemächlich entrollen.
2) Siehe S. 234, 413, 553 fg.

Die Entstehung einer neuen Welt.
trotzdem es von dem scheinbar durchaus Konkreten, Realen ausgeht,
doch mit dem schlechthin Unbegreiflichen endet, ist der Fortgang auf
dem Gebiet der unmechanischen Welt der umgekehrte: das Unbegreif-
liche (sobald man philosophisch darüber nachsinnt) liegt hier nicht am
Ende der Bahn, sondern gleich am Anfang. Es ist der Begriff und
die Möglichkeit der Freiheit, die Denkbarkeit der Ausserzeitlichkeit, der
Ursprung des Gefühles sittlicher Verantwortlichkeit und Pflicht u. s. w.,
welches sich beim Verständnis nicht Eingang verschaffen kann, während
wir alle diese Dinge sehr gut begreifen, je weiter wir sie hinausverfolgen
in das Bereich des thatsächlich jeden Augenblick Erlebten. Die Freiheit
ist die sicherste aller Thatsachen der Erfahrung; das Ich steht ganz ausser-
halb der Zeit und merkt deren Fortgang nur an äusseren Erscheinungen;1)
das Gewissen, die Reue, das Pflichtgefühl sind noch strengere Herren als
der Hunger. Daher nun die Neigung des unmetaphysisch beanlagten
Menschen, den Unterschied zwischen den beiden Welten — der Natur
von aussen und der Natur von innen, wie Goethe sie nennt — zu
übersehen: die Freiheit z. B. in die Welt der Erscheinung hinaus zu
versetzen (als kosmischen Gott, Wunder u. s. w.), einen Anfang zu
supponieren (was den Begriff der Zeit aufhebt), die Moral auf be-
stimmte, historisch erlassene, jeder Zeit widerrufliche Gebote zu be-
gründen, (wodurch das Sittengesetz hinschwindet) u. s. w. Zwar hatten
die metaphysisch Beanlagten, die Arier, diesen Fehler nie begangen:2)
ihre Mythologien bezeugen eine wunderbare Vorausahnung metaphy-
sischer Erkenntnis, oder aber (denn das können wir mit genau dem-
selben Recht sagen) unsere wissenschaftliche Metaphysik bedeutet das
Wiederaufleben weithinblickender Mythologie; doch hat, wie die Ge-
schichte zeigt, diese höhere Ahnung vor der wuchtigen Behauptung
der minder begabten, nach dem blossen Sinnenschein urteilenden und
blindem historischen Aberglauben huldigenden Menschen nicht Stich
gehalten, und es giebt nur ein einziges Antidot, mächtig genug, uns zu
retten: unsere wissenschaftliche Weltanschauung. Aus der unkritischen
Identifizierung ergeben sich auch andere schale und darum schäd-
liche Systeme, sobald nämlich im Gegensatz zu dem soeben genannten
Hinausversetzen der inneren Erfahrung in die Welt der Erscheinung,

1) Das Älterwerden wird nur an dem Altern Anderer bemerkt oder aus dem
Auftreten von Gebrechen — also äusserlich — wahrgenommen; Stunden können
wie ein Augenblick verfliegen, wenige Sekunden das ausführliche Bild eines viel-
jährigen Lebens gemächlich entrollen.
2) Siehe S. 234, 413, 553 fg.
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[934/0413] Die Entstehung einer neuen Welt. trotzdem es von dem scheinbar durchaus Konkreten, Realen ausgeht, doch mit dem schlechthin Unbegreiflichen endet, ist der Fortgang auf dem Gebiet der unmechanischen Welt der umgekehrte: das Unbegreif- liche (sobald man philosophisch darüber nachsinnt) liegt hier nicht am Ende der Bahn, sondern gleich am Anfang. Es ist der Begriff und die Möglichkeit der Freiheit, die Denkbarkeit der Ausserzeitlichkeit, der Ursprung des Gefühles sittlicher Verantwortlichkeit und Pflicht u. s. w., welches sich beim Verständnis nicht Eingang verschaffen kann, während wir alle diese Dinge sehr gut begreifen, je weiter wir sie hinausverfolgen in das Bereich des thatsächlich jeden Augenblick Erlebten. Die Freiheit ist die sicherste aller Thatsachen der Erfahrung; das Ich steht ganz ausser- halb der Zeit und merkt deren Fortgang nur an äusseren Erscheinungen; 1) das Gewissen, die Reue, das Pflichtgefühl sind noch strengere Herren als der Hunger. Daher nun die Neigung des unmetaphysisch beanlagten Menschen, den Unterschied zwischen den beiden Welten — der Natur von aussen und der Natur von innen, wie Goethe sie nennt — zu übersehen: die Freiheit z. B. in die Welt der Erscheinung hinaus zu versetzen (als kosmischen Gott, Wunder u. s. w.), einen Anfang zu supponieren (was den Begriff der Zeit aufhebt), die Moral auf be- stimmte, historisch erlassene, jeder Zeit widerrufliche Gebote zu be- gründen, (wodurch das Sittengesetz hinschwindet) u. s. w. Zwar hatten die metaphysisch Beanlagten, die Arier, diesen Fehler nie begangen: 2) ihre Mythologien bezeugen eine wunderbare Vorausahnung metaphy- sischer Erkenntnis, oder aber (denn das können wir mit genau dem- selben Recht sagen) unsere wissenschaftliche Metaphysik bedeutet das Wiederaufleben weithinblickender Mythologie; doch hat, wie die Ge- schichte zeigt, diese höhere Ahnung vor der wuchtigen Behauptung der minder begabten, nach dem blossen Sinnenschein urteilenden und blindem historischen Aberglauben huldigenden Menschen nicht Stich gehalten, und es giebt nur ein einziges Antidot, mächtig genug, uns zu retten: unsere wissenschaftliche Weltanschauung. Aus der unkritischen Identifizierung ergeben sich auch andere schale und darum schäd- liche Systeme, sobald nämlich im Gegensatz zu dem soeben genannten Hinausversetzen der inneren Erfahrung in die Welt der Erscheinung, 1) Das Älterwerden wird nur an dem Altern Anderer bemerkt oder aus dem Auftreten von Gebrechen — also äusserlich — wahrgenommen; Stunden können wie ein Augenblick verfliegen, wenige Sekunden das ausführliche Bild eines viel- jährigen Lebens gemächlich entrollen. 2) Siehe S. 234, 413, 553 fg.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 934. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/413>, abgerufen am 27.04.2024.