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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Strich zwischen der Welt der Erscheinung und dem hypothetischen
"Ding an sich" ziehen (wie das ein berühmter Nachfolger Kant's zu
thun unternahm), so wäre das ebenfalls vom rein wissenschaftlichen
Standpunkt aus sehr anfechtbar, denn die Grenzlinie läuft dann jenseits
aller Erfahrung. Insofern die unmechanische Welt uns lediglich durch
innere, individuelle (erst durch Analogie auf andere Individuen über-
tragene) Erfahrung gegeben ist, darf man wohl, des einfachen Aus-
druckes wegen, zwischen einer Welt in uns und einer Welt ausser
uns
unterscheiden, wobei nur sorgfältig darauf zu merken ist, dass die
Welt "ausser uns" jegliche "Erscheinung" begreift, also auch unseren
Körper, und nicht diesen allein, sondern auch den die Körperwelt
wahrnehmenden und denkenden Verstand. Diesen Ausdruck: in uns
und ausser uns, findet man oft bei Kant und bei Anderen. Doch,
ganz einwurfslos ist auch er nicht, denn erstens werden wir unwillkür-
lich getrieben -- wie oben gesagt -- diese innere Welt wenn auch
nicht mit den Juden zu einer äusseren Ursache umzuwandeln, so doch
aller Erscheinung als ebenfalls innere Welt beizulegen, und sodann ist es
nicht recht fasslich, wie wir es fertig bringen sollen, unser denkendes
Hirn in zwei Stücke zu teilen; es ist ja doch dieses selbe Gehirn,
welches auch die unmechanische Welt wahrnimmt und denkt. Freilich
wird die unmechanische Welt dem Verstandesorgan nicht durch eine
sinnliche Vorstellung von aussen, sondern lediglich durch innere Er-
fahrung gegeben, und darum vermag es der Verstand bei seinem gänz-
lichen Mangel an Erfindungskraft nicht, die Wahrnehmung bis zu einer
Vorstellung zu erheben, sondern alles Reden darüber bleibt notwendig
symbolisch, d. h. ein Reden durch Bilder und Zeichen: doch, sahen
wir nicht, dass auch die Welt der Erscheinung uns zwar Vorstellungen,
doch ebenfalls nur symbolische Vorstellungen gab? Das "in uns" und
"ausser uns" ist also Metapher. Die Grenzlinie wird nur dann streng
wissenschaftlich gezogen, wenn wir keine Spur von dem abweichen,
was die Erfahrung uns giebt. Das erstrebt Kant durch die Unter-
scheidung, welche er in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1, 1, 1, 2)
aufstellt, zwischen einer Natur, "welcher der Wille unterworfen ist",
und einer Natur "die einem Willen unterworfen ist". Diese Defini-
tion entspricht genau der genannten Bedingung, hat aber den Nachteil
geringer Anschaulichkeit. Besser ist es, wir halten uns an das Fassbarste,
und da müssen wir sagen: was die Erfahrung uns giebt, ist einfach
eine mechanisch deutbare Welt und eine mechanisch
nicht deutbare Welt;
zwischen diesen läuft die Grenzlinie und

Die Entstehung einer neuen Welt.
Strich zwischen der Welt der Erscheinung und dem hypothetischen
»Ding an sich« ziehen (wie das ein berühmter Nachfolger Kant’s zu
thun unternahm), so wäre das ebenfalls vom rein wissenschaftlichen
Standpunkt aus sehr anfechtbar, denn die Grenzlinie läuft dann jenseits
aller Erfahrung. Insofern die unmechanische Welt uns lediglich durch
innere, individuelle (erst durch Analogie auf andere Individuen über-
tragene) Erfahrung gegeben ist, darf man wohl, des einfachen Aus-
druckes wegen, zwischen einer Welt in uns und einer Welt ausser
uns
unterscheiden, wobei nur sorgfältig darauf zu merken ist, dass die
Welt »ausser uns« jegliche »Erscheinung« begreift, also auch unseren
Körper, und nicht diesen allein, sondern auch den die Körperwelt
wahrnehmenden und denkenden Verstand. Diesen Ausdruck: in uns
und ausser uns, findet man oft bei Kant und bei Anderen. Doch,
ganz einwurfslos ist auch er nicht, denn erstens werden wir unwillkür-
lich getrieben — wie oben gesagt — diese innere Welt wenn auch
nicht mit den Juden zu einer äusseren Ursache umzuwandeln, so doch
aller Erscheinung als ebenfalls innere Welt beizulegen, und sodann ist es
nicht recht fasslich, wie wir es fertig bringen sollen, unser denkendes
Hirn in zwei Stücke zu teilen; es ist ja doch dieses selbe Gehirn,
welches auch die unmechanische Welt wahrnimmt und denkt. Freilich
wird die unmechanische Welt dem Verstandesorgan nicht durch eine
sinnliche Vorstellung von aussen, sondern lediglich durch innere Er-
fahrung gegeben, und darum vermag es der Verstand bei seinem gänz-
lichen Mangel an Erfindungskraft nicht, die Wahrnehmung bis zu einer
Vorstellung zu erheben, sondern alles Reden darüber bleibt notwendig
symbolisch, d. h. ein Reden durch Bilder und Zeichen: doch, sahen
wir nicht, dass auch die Welt der Erscheinung uns zwar Vorstellungen,
doch ebenfalls nur symbolische Vorstellungen gab? Das »in uns« und
»ausser uns« ist also Metapher. Die Grenzlinie wird nur dann streng
wissenschaftlich gezogen, wenn wir keine Spur von dem abweichen,
was die Erfahrung uns giebt. Das erstrebt Kant durch die Unter-
scheidung, welche er in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1, 1, 1, 2)
aufstellt, zwischen einer Natur, »welcher der Wille unterworfen ist«,
und einer Natur »die einem Willen unterworfen ist«. Diese Defini-
tion entspricht genau der genannten Bedingung, hat aber den Nachteil
geringer Anschaulichkeit. Besser ist es, wir halten uns an das Fassbarste,
und da müssen wir sagen: was die Erfahrung uns giebt, ist einfach
eine mechanisch deutbare Welt und eine mechanisch
nicht deutbare Welt;
zwischen diesen läuft die Grenzlinie und

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[936/0415] Die Entstehung einer neuen Welt. Strich zwischen der Welt der Erscheinung und dem hypothetischen »Ding an sich« ziehen (wie das ein berühmter Nachfolger Kant’s zu thun unternahm), so wäre das ebenfalls vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus sehr anfechtbar, denn die Grenzlinie läuft dann jenseits aller Erfahrung. Insofern die unmechanische Welt uns lediglich durch innere, individuelle (erst durch Analogie auf andere Individuen über- tragene) Erfahrung gegeben ist, darf man wohl, des einfachen Aus- druckes wegen, zwischen einer Welt in uns und einer Welt ausser uns unterscheiden, wobei nur sorgfältig darauf zu merken ist, dass die Welt »ausser uns« jegliche »Erscheinung« begreift, also auch unseren Körper, und nicht diesen allein, sondern auch den die Körperwelt wahrnehmenden und denkenden Verstand. Diesen Ausdruck: in uns und ausser uns, findet man oft bei Kant und bei Anderen. Doch, ganz einwurfslos ist auch er nicht, denn erstens werden wir unwillkür- lich getrieben — wie oben gesagt — diese innere Welt wenn auch nicht mit den Juden zu einer äusseren Ursache umzuwandeln, so doch aller Erscheinung als ebenfalls innere Welt beizulegen, und sodann ist es nicht recht fasslich, wie wir es fertig bringen sollen, unser denkendes Hirn in zwei Stücke zu teilen; es ist ja doch dieses selbe Gehirn, welches auch die unmechanische Welt wahrnimmt und denkt. Freilich wird die unmechanische Welt dem Verstandesorgan nicht durch eine sinnliche Vorstellung von aussen, sondern lediglich durch innere Er- fahrung gegeben, und darum vermag es der Verstand bei seinem gänz- lichen Mangel an Erfindungskraft nicht, die Wahrnehmung bis zu einer Vorstellung zu erheben, sondern alles Reden darüber bleibt notwendig symbolisch, d. h. ein Reden durch Bilder und Zeichen: doch, sahen wir nicht, dass auch die Welt der Erscheinung uns zwar Vorstellungen, doch ebenfalls nur symbolische Vorstellungen gab? Das »in uns« und »ausser uns« ist also Metapher. Die Grenzlinie wird nur dann streng wissenschaftlich gezogen, wenn wir keine Spur von dem abweichen, was die Erfahrung uns giebt. Das erstrebt Kant durch die Unter- scheidung, welche er in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1, 1, 1, 2) aufstellt, zwischen einer Natur, »welcher der Wille unterworfen ist«, und einer Natur »die einem Willen unterworfen ist«. Diese Defini- tion entspricht genau der genannten Bedingung, hat aber den Nachteil geringer Anschaulichkeit. Besser ist es, wir halten uns an das Fassbarste, und da müssen wir sagen: was die Erfahrung uns giebt, ist einfach eine mechanisch deutbare Welt und eine mechanisch nicht deutbare Welt; zwischen diesen läuft die Grenzlinie und

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 936. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/415>, abgerufen am 27.04.2024.