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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
scheidet sie so gänzlich von einander, dass jede Überschreitung ein
Attentat gegen die Erfahrung bedeutet: Vergehen gegen Erfahrungs-
thatsachen sind aber philosophische Lügen.

Im Sinne dieser Unterscheidung hat nun Kant die epochemachendeDie Religion.
Behauptung aufstellen dürfen: "Religion müssen wir in uns, nicht ausser
uns suchen".1) Das heisst, wenn wir es in die Ausdrucksweise unserer
Definition übertragen: Religion müssen wir einzig in der mechanisch nicht
deutbaren Welt suchen. Es ist nicht wahr, dass man in der mechanisch
deutbaren Welt der Erscheinung irgend etwas findet, was auf Freiheit,
Sittlichkeit, Gottheit deute. Wer den Begriff der Freiheit in die
mechanische Natur hineinträgt, vernichtet die Natur und zerstört zu-
gleich die wahre Bedeutung der Freiheit (siehe S. 884); von Gott gilt
ein gleiches (siehe S. 924); und was Sittlichkeit anbetrifft, so zeigt jeder
unbefangene Blick -- und trotz aller heldenhaften Versuche der Apo-
logisten von Aristoteles an bis zu Bischof Butler's allzuberühmtem Buch
im vorigen Jahrhundert über die Analogie zwischen offenbarter Religion
und den Gesetzen der Natur
-- dass die Natur weder moralisch noch
vernünftig ist. Die Begriffe Güte, Mitleid, Pflicht, Tugend, Reue sind ihr
ebenso fremd wie vernünftige, symmetrische, einfach zweckmässige An-
ordnung. Die mechanisch deutbare Natur ist schlecht, dumm und
gefühllos; Tugend, Genialität und Güte sind lediglich der mechanisch
nicht deutbaren Natur zu eigen. Meister Eckhart wusste das wohl
und sprach darum die denkwürdigen Worte: "Sage ich, Gott ist gut,
es ist nicht wahr, vielmehr: ich bin gut, Gott ist nicht gut. Spreche
ich auch, Gott ist weise, es ist nicht wahr: ich bin weiser denn er."2)
Echte Naturwissenschaft konnte über die Richtigkeit dieses Urteils
keinen Zweifel übrig lassen. Religion müssen wir in der mechanisch
nicht deutbaren Natur suchen.

Ich werde es nicht unternehmen, Kant's Sitten- und Religions-
lehre darzustellen, das würde zu weit führen und ist ausserdem schon
oft gethan worden;3) ich glaube meine Hauptaufgabe gelöst zu haben,

1) Religion 4. Stück, 1. Teil, 2. Abschn.
2) Predigt 99.
3) Eines der besten Bücher dieser Art, wenngleich es früher als mehrere
von Kant's hierher gehörigen Schriften erschien und nie wieder verlegt wurde,
sind Reinhold's Briefe über die Kantische Philosophie (Leipzig 1790); dem philo-
sophisch unselbständigen Leser sind sie dringend zu empfehlen. Durch Reinhold
persönlich wurde Goethe in Kant eingeführt, und auch Schiller beruft sich gern
(z. B. in Über Anmut und Würde) auf ihn; Kant nennt Reinhold seinen "teuersten
Herzensfreund". Demselben Leser -- sobald er es nur ein bischen ernst meint --
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 60

Weltanschauung und Religion.
scheidet sie so gänzlich von einander, dass jede Überschreitung ein
Attentat gegen die Erfahrung bedeutet: Vergehen gegen Erfahrungs-
thatsachen sind aber philosophische Lügen.

Im Sinne dieser Unterscheidung hat nun Kant die epochemachendeDie Religion.
Behauptung aufstellen dürfen: »Religion müssen wir in uns, nicht ausser
uns suchen«.1) Das heisst, wenn wir es in die Ausdrucksweise unserer
Definition übertragen: Religion müssen wir einzig in der mechanisch nicht
deutbaren Welt suchen. Es ist nicht wahr, dass man in der mechanisch
deutbaren Welt der Erscheinung irgend etwas findet, was auf Freiheit,
Sittlichkeit, Gottheit deute. Wer den Begriff der Freiheit in die
mechanische Natur hineinträgt, vernichtet die Natur und zerstört zu-
gleich die wahre Bedeutung der Freiheit (siehe S. 884); von Gott gilt
ein gleiches (siehe S. 924); und was Sittlichkeit anbetrifft, so zeigt jeder
unbefangene Blick — und trotz aller heldenhaften Versuche der Apo-
logisten von Aristoteles an bis zu Bischof Butler’s allzuberühmtem Buch
im vorigen Jahrhundert über die Analogie zwischen offenbarter Religion
und den Gesetzen der Natur
— dass die Natur weder moralisch noch
vernünftig ist. Die Begriffe Güte, Mitleid, Pflicht, Tugend, Reue sind ihr
ebenso fremd wie vernünftige, symmetrische, einfach zweckmässige An-
ordnung. Die mechanisch deutbare Natur ist schlecht, dumm und
gefühllos; Tugend, Genialität und Güte sind lediglich der mechanisch
nicht deutbaren Natur zu eigen. Meister Eckhart wusste das wohl
und sprach darum die denkwürdigen Worte: »Sage ich, Gott ist gut,
es ist nicht wahr, vielmehr: ich bin gut, Gott ist nicht gut. Spreche
ich auch, Gott ist weise, es ist nicht wahr: ich bin weiser denn er.«2)
Echte Naturwissenschaft konnte über die Richtigkeit dieses Urteils
keinen Zweifel übrig lassen. Religion müssen wir in der mechanisch
nicht deutbaren Natur suchen.

Ich werde es nicht unternehmen, Kant’s Sitten- und Religions-
lehre darzustellen, das würde zu weit führen und ist ausserdem schon
oft gethan worden;3) ich glaube meine Hauptaufgabe gelöst zu haben,

1) Religion 4. Stück, 1. Teil, 2. Abschn.
2) Predigt 99.
3) Eines der besten Bücher dieser Art, wenngleich es früher als mehrere
von Kant’s hierher gehörigen Schriften erschien und nie wieder verlegt wurde,
sind Reinhold’s Briefe über die Kantische Philosophie (Leipzig 1790); dem philo-
sophisch unselbständigen Leser sind sie dringend zu empfehlen. Durch Reinhold
persönlich wurde Goethe in Kant eingeführt, und auch Schiller beruft sich gern
(z. B. in Über Anmut und Würde) auf ihn; Kant nennt Reinhold seinen »teuersten
Herzensfreund«. Demselben Leser — sobald er es nur ein bischen ernst meint —
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 60
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[937/0416] Weltanschauung und Religion. scheidet sie so gänzlich von einander, dass jede Überschreitung ein Attentat gegen die Erfahrung bedeutet: Vergehen gegen Erfahrungs- thatsachen sind aber philosophische Lügen. Im Sinne dieser Unterscheidung hat nun Kant die epochemachende Behauptung aufstellen dürfen: »Religion müssen wir in uns, nicht ausser uns suchen«. 1) Das heisst, wenn wir es in die Ausdrucksweise unserer Definition übertragen: Religion müssen wir einzig in der mechanisch nicht deutbaren Welt suchen. Es ist nicht wahr, dass man in der mechanisch deutbaren Welt der Erscheinung irgend etwas findet, was auf Freiheit, Sittlichkeit, Gottheit deute. Wer den Begriff der Freiheit in die mechanische Natur hineinträgt, vernichtet die Natur und zerstört zu- gleich die wahre Bedeutung der Freiheit (siehe S. 884); von Gott gilt ein gleiches (siehe S. 924); und was Sittlichkeit anbetrifft, so zeigt jeder unbefangene Blick — und trotz aller heldenhaften Versuche der Apo- logisten von Aristoteles an bis zu Bischof Butler’s allzuberühmtem Buch im vorigen Jahrhundert über die Analogie zwischen offenbarter Religion und den Gesetzen der Natur — dass die Natur weder moralisch noch vernünftig ist. Die Begriffe Güte, Mitleid, Pflicht, Tugend, Reue sind ihr ebenso fremd wie vernünftige, symmetrische, einfach zweckmässige An- ordnung. Die mechanisch deutbare Natur ist schlecht, dumm und gefühllos; Tugend, Genialität und Güte sind lediglich der mechanisch nicht deutbaren Natur zu eigen. Meister Eckhart wusste das wohl und sprach darum die denkwürdigen Worte: »Sage ich, Gott ist gut, es ist nicht wahr, vielmehr: ich bin gut, Gott ist nicht gut. Spreche ich auch, Gott ist weise, es ist nicht wahr: ich bin weiser denn er.« 2) Echte Naturwissenschaft konnte über die Richtigkeit dieses Urteils keinen Zweifel übrig lassen. Religion müssen wir in der mechanisch nicht deutbaren Natur suchen. Die Religion. Ich werde es nicht unternehmen, Kant’s Sitten- und Religions- lehre darzustellen, das würde zu weit führen und ist ausserdem schon oft gethan worden; 3) ich glaube meine Hauptaufgabe gelöst zu haben, 1) Religion 4. Stück, 1. Teil, 2. Abschn. 2) Predigt 99. 3) Eines der besten Bücher dieser Art, wenngleich es früher als mehrere von Kant’s hierher gehörigen Schriften erschien und nie wieder verlegt wurde, sind Reinhold’s Briefe über die Kantische Philosophie (Leipzig 1790); dem philo- sophisch unselbständigen Leser sind sie dringend zu empfehlen. Durch Reinhold persönlich wurde Goethe in Kant eingeführt, und auch Schiller beruft sich gern (z. B. in Über Anmut und Würde) auf ihn; Kant nennt Reinhold seinen »teuersten Herzensfreund«. Demselben Leser — sobald er es nur ein bischen ernst meint — Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 60

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 937. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/416>, abgerufen am 27.04.2024.