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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
beiden Welten -- der sichtbaren und der unsichtbaren, der zeitlichen
und der zeitlosen --, sonst unauffindbar, liegt ja euch Menschen im
Busen und durch die Gesinnung der inneren Welt wird die Bedeutung
der äusseren Welt bestimmt: das lehrt euch täglich das Gewissen, das
lehrt euch Kunst und Liebe und Mitleid und die ganze Geschichte
der Menschen; hier seid ihr frei, sobald ihr's nur wisst und wollt;
ihr könnt die sichtbare Welt verklären, selber neugeboren werden, die
Zeit zur Ewigkeit umwandeln, das Himmelreich im Acker aufpflügen --
an euch denn, es zu thun! Religion soll für euch nicht mehr den
Glauben an Vergangenes und die Hoffnung auf Zukünftiges bedeuten,
auch nicht (wie bei den Indern) eine blosse metaphysische Erkenntnis,
sondern die That der Gegenwart! Glaubt ihr nur an euch selber, so
besitzt ihr die Kraft, das neue "mögliche Reich" wirklich zu machen;
wachet auf, es nahet gen den Tag!

Christus
und Kant.

Wem fiele nicht sofort die Verwandtschaft zwischen dieser
religiösen Weltanschauung Kant's -- gewonnen auf dem Wege treuer,
kritischer Naturbetrachtung -- und dem lebendigen Kern der Lehre
Christi auf? Sagte Dieser nicht, das Himmelreich sei nicht ausser uns,
sondern in uns? Die Ähnlichkeit beschränkt sich jedoch nicht auf
diesen Kernpunkt. Wer Kant's viele Schriften über Religion und Sitten-
gesetz durchforscht, wird sie vielerorten antreffen; so z. B. in dem
Verhalten gegen die offiziell anerkannte Religionsform. Es ist das-
selbe ehrfurchtsvolle Sichanschliessen an die für heilig gehaltenen Formen,
verbunden mit einer gänzlichen Unabhängigkeit des Geistes, der das
Alte durch seinen Hauch zu einem Neuen belebt.1) Die Bibel z. B.
verwirft Kant nicht, doch schätzt er sie nicht wegen dessen, was man
aus ihr "herauszieht", sondern dessen, "was man mit moralischer
Denkungsart in sie hineinträgt".2) Und hat er auch nichts gegen die
Bildung von Kirchen, "deren es verschiedene gleich gute Formen geben
kann", so hat er doch den Mut, unumwunden auszusprechen: "Diesen
statutarischen Glauben nun (die historischen Anpreisungsmittel und die
Kirchendogmen) für wesentlich zum Dienste Gottes überhaupt zu
halten und ihn zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens
am Menschen zu machen, ist ein Religionswahn, dessen Befolgung
ein Afterdienst ist, d. i. eine solche vermeintliche Verehrung Gottes,
wodurch dem wahren, von ihm selbst geforderten Dienste gerade ent-

1) Siehe S. 227 fg.
2) Der Streit der Fakultäten, 1. Abschn., Anhang.

Die Entstehung einer neuen Welt.
beiden Welten — der sichtbaren und der unsichtbaren, der zeitlichen
und der zeitlosen —, sonst unauffindbar, liegt ja euch Menschen im
Busen und durch die Gesinnung der inneren Welt wird die Bedeutung
der äusseren Welt bestimmt: das lehrt euch täglich das Gewissen, das
lehrt euch Kunst und Liebe und Mitleid und die ganze Geschichte
der Menschen; hier seid ihr frei, sobald ihr’s nur wisst und wollt;
ihr könnt die sichtbare Welt verklären, selber neugeboren werden, die
Zeit zur Ewigkeit umwandeln, das Himmelreich im Acker aufpflügen —
an euch denn, es zu thun! Religion soll für euch nicht mehr den
Glauben an Vergangenes und die Hoffnung auf Zukünftiges bedeuten,
auch nicht (wie bei den Indern) eine blosse metaphysische Erkenntnis,
sondern die That der Gegenwart! Glaubt ihr nur an euch selber, so
besitzt ihr die Kraft, das neue »mögliche Reich« wirklich zu machen;
wachet auf, es nahet gen den Tag!

Christus
und Kant.

Wem fiele nicht sofort die Verwandtschaft zwischen dieser
religiösen Weltanschauung Kant’s — gewonnen auf dem Wege treuer,
kritischer Naturbetrachtung — und dem lebendigen Kern der Lehre
Christi auf? Sagte Dieser nicht, das Himmelreich sei nicht ausser uns,
sondern in uns? Die Ähnlichkeit beschränkt sich jedoch nicht auf
diesen Kernpunkt. Wer Kant’s viele Schriften über Religion und Sitten-
gesetz durchforscht, wird sie vielerorten antreffen; so z. B. in dem
Verhalten gegen die offiziell anerkannte Religionsform. Es ist das-
selbe ehrfurchtsvolle Sichanschliessen an die für heilig gehaltenen Formen,
verbunden mit einer gänzlichen Unabhängigkeit des Geistes, der das
Alte durch seinen Hauch zu einem Neuen belebt.1) Die Bibel z. B.
verwirft Kant nicht, doch schätzt er sie nicht wegen dessen, was man
aus ihr »herauszieht«, sondern dessen, »was man mit moralischer
Denkungsart in sie hineinträgt«.2) Und hat er auch nichts gegen die
Bildung von Kirchen, »deren es verschiedene gleich gute Formen geben
kann«, so hat er doch den Mut, unumwunden auszusprechen: »Diesen
statutarischen Glauben nun (die historischen Anpreisungsmittel und die
Kirchendogmen) für wesentlich zum Dienste Gottes überhaupt zu
halten und ihn zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens
am Menschen zu machen, ist ein Religionswahn, dessen Befolgung
ein Afterdienst ist, d. i. eine solche vermeintliche Verehrung Gottes,
wodurch dem wahren, von ihm selbst geforderten Dienste gerade ent-

1) Siehe S. 227 fg.
2) Der Streit der Fakultäten, 1. Abschn., Anhang.
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[942/0421] Die Entstehung einer neuen Welt. beiden Welten — der sichtbaren und der unsichtbaren, der zeitlichen und der zeitlosen —, sonst unauffindbar, liegt ja euch Menschen im Busen und durch die Gesinnung der inneren Welt wird die Bedeutung der äusseren Welt bestimmt: das lehrt euch täglich das Gewissen, das lehrt euch Kunst und Liebe und Mitleid und die ganze Geschichte der Menschen; hier seid ihr frei, sobald ihr’s nur wisst und wollt; ihr könnt die sichtbare Welt verklären, selber neugeboren werden, die Zeit zur Ewigkeit umwandeln, das Himmelreich im Acker aufpflügen — an euch denn, es zu thun! Religion soll für euch nicht mehr den Glauben an Vergangenes und die Hoffnung auf Zukünftiges bedeuten, auch nicht (wie bei den Indern) eine blosse metaphysische Erkenntnis, sondern die That der Gegenwart! Glaubt ihr nur an euch selber, so besitzt ihr die Kraft, das neue »mögliche Reich« wirklich zu machen; wachet auf, es nahet gen den Tag! Wem fiele nicht sofort die Verwandtschaft zwischen dieser religiösen Weltanschauung Kant’s — gewonnen auf dem Wege treuer, kritischer Naturbetrachtung — und dem lebendigen Kern der Lehre Christi auf? Sagte Dieser nicht, das Himmelreich sei nicht ausser uns, sondern in uns? Die Ähnlichkeit beschränkt sich jedoch nicht auf diesen Kernpunkt. Wer Kant’s viele Schriften über Religion und Sitten- gesetz durchforscht, wird sie vielerorten antreffen; so z. B. in dem Verhalten gegen die offiziell anerkannte Religionsform. Es ist das- selbe ehrfurchtsvolle Sichanschliessen an die für heilig gehaltenen Formen, verbunden mit einer gänzlichen Unabhängigkeit des Geistes, der das Alte durch seinen Hauch zu einem Neuen belebt. 1) Die Bibel z. B. verwirft Kant nicht, doch schätzt er sie nicht wegen dessen, was man aus ihr »herauszieht«, sondern dessen, »was man mit moralischer Denkungsart in sie hineinträgt«. 2) Und hat er auch nichts gegen die Bildung von Kirchen, »deren es verschiedene gleich gute Formen geben kann«, so hat er doch den Mut, unumwunden auszusprechen: »Diesen statutarischen Glauben nun (die historischen Anpreisungsmittel und die Kirchendogmen) für wesentlich zum Dienste Gottes überhaupt zu halten und ihn zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen zu machen, ist ein Religionswahn, dessen Befolgung ein Afterdienst ist, d. i. eine solche vermeintliche Verehrung Gottes, wodurch dem wahren, von ihm selbst geforderten Dienste gerade ent- 1) Siehe S. 227 fg. 2) Der Streit der Fakultäten, 1. Abschn., Anhang.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 942. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/421>, abgerufen am 27.04.2024.