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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
Kant's gesamten Schriften ergänzen; sie bildet den einzigen würdigen
Kommentar zu Goethe's Religion der Ehrfurcht vor sich selbst. "Nun
stelle ich den Menschen auf, wie er sich selbst fragt: was ist das in
mir, welches macht, dass ich die innigsten Anlockungen meiner Triebe
und alle Wünsche, die aus meiner Natur hervorgehen, einem Gesetze
aufopfern kann, welches mir keinen Vorteil zum Ersatz verspricht,
und keinen Verlust bei Übertretung desselben androht; ja das ich nur
um desto inniglicher verehre, je strenger es gebietet und je weniger
es dafür anbietet? Diese Frage regt durch das Erstaunen über die
Grösse und Erhabenheit der inneren Anlage in der Menschheit, und
zugleich die Un durchdringlichkeit des Geheimnisses, welches sie ver-
hüllt (denn die Antwort: es ist die Freiheit, wäre tautologisch,
weil diese eben das Geheimnis selbst ausmacht), die ganze Seele auf.
Man kann nicht satt werden, sein Augenmerk darauf zu richten und
in sich selbst eine Macht zu bewundern, die keiner Macht der Natur
weicht. ... Hier ist nun das, was Archimedes bedurfte, aber nicht
fand: ein fester Punkt, woran die Vernunft ihren Hebel ansetzen kann,
und zwar, ohne ihn weder an die gegenwärtige, noch eine künftige
Welt, sondern bloss an ihre innere Idee der Freiheit, die durch das
unerschütterliche moralische Gesetz, als sichere Grundlage daliegt, anzu-
legen, um den menschlichen Willen, selbst beim Widerstande der
ganzen Natur, durch ihre Grundsätze zu bewegen."1)

Man sieht, diese Religion bildet den genauen Gegensatz zur
Mechanik.2) Germanische Wissenschaft lehrt die peinlichst genaue Fest-
stellung dessen, was da ist, und lehrt, uns damit zu begnügen, da wir
die Welt der Erscheinung nicht durch Hypothesen und Zauberkünste,
sondern nur durch genaue, sklavenmässige Anpassung beherrschen lernen
können; germanische Religion deckt dagegen ein weites Reich auf,
welches als erhabenes Ideal in unserem Innern schlummert, und lehrt
uns: hier seid ihr frei, hier seid ihr selber schaffende, gesetzgebende
Natur; das Reich der Ideale ist nicht, durch euer Thun kann es aber
wirklich werden; als "Erscheinung" seid ihr zwar an das allgemeine
Gesetz der lückenlosen mechanischen Notwendigkeit gebunden, doch
lehrt euch die Erfahrung, dass ihr in dem inneren Reiche Autonomie
und Freiheit besitzt; so benutzt sie denn! Der Nexus zwischen den

1) Aus der Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philo-
sophie
(1796).
2) Auch natürlich zur Ethik als "Wissenschaft"; wozu S. 587, Anm. zu
vergleichen ist.

Weltanschauung und Religion.
Kant’s gesamten Schriften ergänzen; sie bildet den einzigen würdigen
Kommentar zu Goethe’s Religion der Ehrfurcht vor sich selbst. »Nun
stelle ich den Menschen auf, wie er sich selbst fragt: was ist das in
mir, welches macht, dass ich die innigsten Anlockungen meiner Triebe
und alle Wünsche, die aus meiner Natur hervorgehen, einem Gesetze
aufopfern kann, welches mir keinen Vorteil zum Ersatz verspricht,
und keinen Verlust bei Übertretung desselben androht; ja das ich nur
um desto inniglicher verehre, je strenger es gebietet und je weniger
es dafür anbietet? Diese Frage regt durch das Erstaunen über die
Grösse und Erhabenheit der inneren Anlage in der Menschheit, und
zugleich die Un durchdringlichkeit des Geheimnisses, welches sie ver-
hüllt (denn die Antwort: es ist die Freiheit, wäre tautologisch,
weil diese eben das Geheimnis selbst ausmacht), die ganze Seele auf.
Man kann nicht satt werden, sein Augenmerk darauf zu richten und
in sich selbst eine Macht zu bewundern, die keiner Macht der Natur
weicht. … Hier ist nun das, was Archimedes bedurfte, aber nicht
fand: ein fester Punkt, woran die Vernunft ihren Hebel ansetzen kann,
und zwar, ohne ihn weder an die gegenwärtige, noch eine künftige
Welt, sondern bloss an ihre innere Idee der Freiheit, die durch das
unerschütterliche moralische Gesetz, als sichere Grundlage daliegt, anzu-
legen, um den menschlichen Willen, selbst beim Widerstande der
ganzen Natur, durch ihre Grundsätze zu bewegen.«1)

Man sieht, diese Religion bildet den genauen Gegensatz zur
Mechanik.2) Germanische Wissenschaft lehrt die peinlichst genaue Fest-
stellung dessen, was da ist, und lehrt, uns damit zu begnügen, da wir
die Welt der Erscheinung nicht durch Hypothesen und Zauberkünste,
sondern nur durch genaue, sklavenmässige Anpassung beherrschen lernen
können; germanische Religion deckt dagegen ein weites Reich auf,
welches als erhabenes Ideal in unserem Innern schlummert, und lehrt
uns: hier seid ihr frei, hier seid ihr selber schaffende, gesetzgebende
Natur; das Reich der Ideale ist nicht, durch euer Thun kann es aber
wirklich werden; als »Erscheinung« seid ihr zwar an das allgemeine
Gesetz der lückenlosen mechanischen Notwendigkeit gebunden, doch
lehrt euch die Erfahrung, dass ihr in dem inneren Reiche Autonomie
und Freiheit besitzt; so benutzt sie denn! Der Nexus zwischen den

1) Aus der Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philo-
sophie
(1796).
2) Auch natürlich zur Ethik als »Wissenschaft«; wozu S. 587, Anm. zu
vergleichen ist.
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[941/0420] Weltanschauung und Religion. Kant’s gesamten Schriften ergänzen; sie bildet den einzigen würdigen Kommentar zu Goethe’s Religion der Ehrfurcht vor sich selbst. »Nun stelle ich den Menschen auf, wie er sich selbst fragt: was ist das in mir, welches macht, dass ich die innigsten Anlockungen meiner Triebe und alle Wünsche, die aus meiner Natur hervorgehen, einem Gesetze aufopfern kann, welches mir keinen Vorteil zum Ersatz verspricht, und keinen Verlust bei Übertretung desselben androht; ja das ich nur um desto inniglicher verehre, je strenger es gebietet und je weniger es dafür anbietet? Diese Frage regt durch das Erstaunen über die Grösse und Erhabenheit der inneren Anlage in der Menschheit, und zugleich die Un durchdringlichkeit des Geheimnisses, welches sie ver- hüllt (denn die Antwort: es ist die Freiheit, wäre tautologisch, weil diese eben das Geheimnis selbst ausmacht), die ganze Seele auf. Man kann nicht satt werden, sein Augenmerk darauf zu richten und in sich selbst eine Macht zu bewundern, die keiner Macht der Natur weicht. … Hier ist nun das, was Archimedes bedurfte, aber nicht fand: ein fester Punkt, woran die Vernunft ihren Hebel ansetzen kann, und zwar, ohne ihn weder an die gegenwärtige, noch eine künftige Welt, sondern bloss an ihre innere Idee der Freiheit, die durch das unerschütterliche moralische Gesetz, als sichere Grundlage daliegt, anzu- legen, um den menschlichen Willen, selbst beim Widerstande der ganzen Natur, durch ihre Grundsätze zu bewegen.« 1) Man sieht, diese Religion bildet den genauen Gegensatz zur Mechanik. 2) Germanische Wissenschaft lehrt die peinlichst genaue Fest- stellung dessen, was da ist, und lehrt, uns damit zu begnügen, da wir die Welt der Erscheinung nicht durch Hypothesen und Zauberkünste, sondern nur durch genaue, sklavenmässige Anpassung beherrschen lernen können; germanische Religion deckt dagegen ein weites Reich auf, welches als erhabenes Ideal in unserem Innern schlummert, und lehrt uns: hier seid ihr frei, hier seid ihr selber schaffende, gesetzgebende Natur; das Reich der Ideale ist nicht, durch euer Thun kann es aber wirklich werden; als »Erscheinung« seid ihr zwar an das allgemeine Gesetz der lückenlosen mechanischen Notwendigkeit gebunden, doch lehrt euch die Erfahrung, dass ihr in dem inneren Reiche Autonomie und Freiheit besitzt; so benutzt sie denn! Der Nexus zwischen den 1) Aus der Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philo- sophie (1796). 2) Auch natürlich zur Ethik als »Wissenschaft«; wozu S. 587, Anm. zu vergleichen ist.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 941. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/420>, abgerufen am 27.04.2024.