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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
scendente und unsere Religion eine ideale, und darum bleiben beide
unausgesprochen, unmitteilbar, den meisten Augen unsichtbar, den
meisten Herzen wenig überzeugend, wenn nicht die Kunst mit ihrer
freischöpferischen Gestaltungskraft -- d. h. die Kunst des Genies --
vermittelnd dazwischen tritt. Darum hat die christliche Kirche -- wie
früher der Götterglaube der Hellenen -- stets die Kunst zu Hilfe ge-
rufen, und darum meint Immanuel Kant, nur vermittelst einer "gött-
lichen Kunst" könne es den Menschen gelingen, die innerlich bewusste
Freiheit dem mechanischen Zwange erfolgreich entgegenzusetzen. Wegen
der Einsicht in diesen Zwang führt unsere Weltanschauung (rein als
Philosophie) zu einer Verneinung; wogegen unsere Kunst aus dem
inneren Erlebnis der Freiheit entstammt und darum ihrem ganzen
Wesen nach Bejahung ist.

Diesen grossen, klaren Begriff der Kunst müssen wir uns also
als ein Heiligstes, Lebendigstes wahren; und wenn Jemand kurzweg
von "Kunst" spricht -- nicht von Kunsthandwerk, Kunsttechnik, Kunst-
tischlerei u. s. w. -- so darf er mit diesem geheiligten Wort einzig
Kunst des Genies bezeichnen wollen.

Sie allein -- die echte Kunst -- bildet das Gebiet, auf welchem
jene beiden Welten, die wir soeben zu unterscheiden gelernt haben
(S. 936) -- die mechanische und die unmechanische -- sich derartig
begegnen, dass eine neue, dritte Welt daraus entsteht. Die Kunst
ist diese dritte Welt. Hier bethätigt sich unmittelbar in der Welt
der Erscheinung die Freiheit, die sonst nur eine Idee, eine ewig
unsichtbare, innere Erfahrung bleibt. Das Gesetz, das hier herrscht,
ist nicht das mechanische; vielmehr ist es in jeder Beziehung das
Analogon jener "Autonomie", welche auf sittlichem Gebiete Kant
zu so staunender Bewunderung angeregt hatte (S. 941). Und was der
religiöse Instinkt nur ahnt und in allerhand mythologischen Träumen
sich vorführt (S. 395), das tritt durch die Kunst gewissermassen "in
das Tageslicht des Lebens ein"; denn indem die Kunst aus freier
innerer Notwendigkeit (Genialität) die gegebene unfreie mechanische
Notwendigkeit (die Welt der Erscheinung) umbildet, deckt sie einen
Zusammenhang zwischen den beiden Welten auf, der aus der rein
wissenschaftlichen Beobachtung der Natur sich nie ergeben hätte. Der
Künstler tritt nunmehr in einen Bund mit dem Naturforscher: denn
es findet sich, dass indem er frei gestaltet, er zugleich die Natur "aus-
legt", d. h., dass er ihr tiefer ins Herz sieht, als der messende und
wägende Beobachter. Auch zum Philosophen gesellt sich der Künstler:

Kunst.
scendente und unsere Religion eine ideale, und darum bleiben beide
unausgesprochen, unmitteilbar, den meisten Augen unsichtbar, den
meisten Herzen wenig überzeugend, wenn nicht die Kunst mit ihrer
freischöpferischen Gestaltungskraft — d. h. die Kunst des Genies —
vermittelnd dazwischen tritt. Darum hat die christliche Kirche — wie
früher der Götterglaube der Hellenen — stets die Kunst zu Hilfe ge-
rufen, und darum meint Immanuel Kant, nur vermittelst einer »gött-
lichen Kunst« könne es den Menschen gelingen, die innerlich bewusste
Freiheit dem mechanischen Zwange erfolgreich entgegenzusetzen. Wegen
der Einsicht in diesen Zwang führt unsere Weltanschauung (rein als
Philosophie) zu einer Verneinung; wogegen unsere Kunst aus dem
inneren Erlebnis der Freiheit entstammt und darum ihrem ganzen
Wesen nach Bejahung ist.

Diesen grossen, klaren Begriff der Kunst müssen wir uns also
als ein Heiligstes, Lebendigstes wahren; und wenn Jemand kurzweg
von »Kunst« spricht — nicht von Kunsthandwerk, Kunsttechnik, Kunst-
tischlerei u. s. w. — so darf er mit diesem geheiligten Wort einzig
Kunst des Genies bezeichnen wollen.

Sie allein — die echte Kunst — bildet das Gebiet, auf welchem
jene beiden Welten, die wir soeben zu unterscheiden gelernt haben
(S. 936) — die mechanische und die unmechanische — sich derartig
begegnen, dass eine neue, dritte Welt daraus entsteht. Die Kunst
ist diese dritte Welt. Hier bethätigt sich unmittelbar in der Welt
der Erscheinung die Freiheit, die sonst nur eine Idee, eine ewig
unsichtbare, innere Erfahrung bleibt. Das Gesetz, das hier herrscht,
ist nicht das mechanische; vielmehr ist es in jeder Beziehung das
Analogon jener »Autonomie«, welche auf sittlichem Gebiete Kant
zu so staunender Bewunderung angeregt hatte (S. 941). Und was der
religiöse Instinkt nur ahnt und in allerhand mythologischen Träumen
sich vorführt (S. 395), das tritt durch die Kunst gewissermassen »in
das Tageslicht des Lebens ein«; denn indem die Kunst aus freier
innerer Notwendigkeit (Genialität) die gegebene unfreie mechanische
Notwendigkeit (die Welt der Erscheinung) umbildet, deckt sie einen
Zusammenhang zwischen den beiden Welten auf, der aus der rein
wissenschaftlichen Beobachtung der Natur sich nie ergeben hätte. Der
Künstler tritt nunmehr in einen Bund mit dem Naturforscher: denn
es findet sich, dass indem er frei gestaltet, er zugleich die Natur »aus-
legt«, d. h., dass er ihr tiefer ins Herz sieht, als der messende und
wägende Beobachter. Auch zum Philosophen gesellt sich der Künstler:

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[949/0428] Kunst. scendente und unsere Religion eine ideale, und darum bleiben beide unausgesprochen, unmitteilbar, den meisten Augen unsichtbar, den meisten Herzen wenig überzeugend, wenn nicht die Kunst mit ihrer freischöpferischen Gestaltungskraft — d. h. die Kunst des Genies — vermittelnd dazwischen tritt. Darum hat die christliche Kirche — wie früher der Götterglaube der Hellenen — stets die Kunst zu Hilfe ge- rufen, und darum meint Immanuel Kant, nur vermittelst einer »gött- lichen Kunst« könne es den Menschen gelingen, die innerlich bewusste Freiheit dem mechanischen Zwange erfolgreich entgegenzusetzen. Wegen der Einsicht in diesen Zwang führt unsere Weltanschauung (rein als Philosophie) zu einer Verneinung; wogegen unsere Kunst aus dem inneren Erlebnis der Freiheit entstammt und darum ihrem ganzen Wesen nach Bejahung ist. Diesen grossen, klaren Begriff der Kunst müssen wir uns also als ein Heiligstes, Lebendigstes wahren; und wenn Jemand kurzweg von »Kunst« spricht — nicht von Kunsthandwerk, Kunsttechnik, Kunst- tischlerei u. s. w. — so darf er mit diesem geheiligten Wort einzig Kunst des Genies bezeichnen wollen. Sie allein — die echte Kunst — bildet das Gebiet, auf welchem jene beiden Welten, die wir soeben zu unterscheiden gelernt haben (S. 936) — die mechanische und die unmechanische — sich derartig begegnen, dass eine neue, dritte Welt daraus entsteht. Die Kunst ist diese dritte Welt. Hier bethätigt sich unmittelbar in der Welt der Erscheinung die Freiheit, die sonst nur eine Idee, eine ewig unsichtbare, innere Erfahrung bleibt. Das Gesetz, das hier herrscht, ist nicht das mechanische; vielmehr ist es in jeder Beziehung das Analogon jener »Autonomie«, welche auf sittlichem Gebiete Kant zu so staunender Bewunderung angeregt hatte (S. 941). Und was der religiöse Instinkt nur ahnt und in allerhand mythologischen Träumen sich vorführt (S. 395), das tritt durch die Kunst gewissermassen »in das Tageslicht des Lebens ein«; denn indem die Kunst aus freier innerer Notwendigkeit (Genialität) die gegebene unfreie mechanische Notwendigkeit (die Welt der Erscheinung) umbildet, deckt sie einen Zusammenhang zwischen den beiden Welten auf, der aus der rein wissenschaftlichen Beobachtung der Natur sich nie ergeben hätte. Der Künstler tritt nunmehr in einen Bund mit dem Naturforscher: denn es findet sich, dass indem er frei gestaltet, er zugleich die Natur »aus- legt«, d. h., dass er ihr tiefer ins Herz sieht, als der messende und wägende Beobachter. Auch zum Philosophen gesellt sich der Künstler:

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 949. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/428>, abgerufen am 27.04.2024.