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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
hierdurch erst erhält das logische Skelett einen blühenden Leib und
erfährt es, wozu es eigentlich auf der Welt ist, wofür ich als Beleg
nur auf Schiller und auf Goethe verweisen will, die beide den höchsten
Gipfel ihres Könnens und ihrer Bedeutung für das Geschlecht der
Germanen im innigen Zusammengehen mit Kant erklimmen, dadurch
aber zugleich in ganz anderer Weise als Schelling und Genossen der
Welt zeigen, welche unermessliche Bedeutung dem Denken des grossen
Königsbergers zukommt.1)

Kunst und
Religion.

Und noch bleibt das Verhältnis zwischen Kunst und Religion
zu nennen. Es ist dies ein so mannigfaches und inniges Verhältnis, dass
es schwer fällt, es analytisch zu zergliedern. In dem Zusammenhang,
der uns augenblicklich beschäftigt, wäre Folgendes zu bemerken.
Religion ist bei allen Indogermanen (wie ich es an vielen Stellen
dieses Buches gezeigt habe) immer schöpferisch in dem künstlerischen
Sinne des Wortes und darum kunstverwandt. Unsere Religion war nie
Geschichte, nie chronistische Erklärung, sondern immer eigene innere
Erfahrung und Deutung dieser Erfahrung, sowie der umgebenden
(und somit auch erfahrenen) Natur durch freie Neugestaltung; anderer-
seits ging unsere gesamte Kunst aus religiösen Mythen hervor. Da
wir aber heute es nicht mehr vermögen, dem naiven Trieb der schöpfe-
rischen Mythengestaltung zu folgen, so wird unser Mythus aus dem
Werk der höchsten und tiefsten Besonnenheit hervorzugehen haben.
Der Stoff ist ihm gegeben. Die wahre Quelle aller Religion ist ja heute
nicht eine unbestimmte Ahnung, nicht Naturdeutung, sondern die that-

1) Da Goethe ohne Zweifel hie und da von Schelling beeinflusst worden
ist und dies zu manchem grundfalschen Urteil geführt hat, muss es betont werden,
dass er dennoch Kant stets weit über alle seine Nachfolger gestellt hat. Zur Zeit
als Fichte und Schelling in hoher Blüte standen und Hegel zu schreiben begann,
urteilte Goethe: "das Spekulieren über das Übermenschliche, trotz aller Warnungen
Kant's, ist ein vergebliches Abmühen". Als Schelling's Lebenswerk schon lange
vollendet vorlag (im Jahre 1817), sagte Goethe zu Victor Cousin, er habe von
Neuem begonnen, Kant zu lesen und erfreue sich an der beispiellosen Klarheit
dieses Denkens; auch fügte er hinzu: "Le systeme de Kant n'est pas detruit". Sechs
Jahre später klagte Goethe dem Kanzler von Müller, Schelling's "zweizüngelnde
Ausdrücke" hätten die rationelle Theologie "um ein halbes Jahrhundert zurück-
gebracht". Die Persönlichkeit Schelling's sowie gewisse Eigenschaften seines Stils
und gewisse Richtungen seines Denkens haben Goethe oft gefesselt; doch konnte
ein so klarer Geist niemals in den Irrtum verfallen, Kant und Schelling als kom-
mensurable Grössen zu betrachten. (Für die obigen Citate siehe die von Bieder-
mann herausgegebenen Gespräche, I, 207, III, 290, IV, 227.)

Die Entstehung einer neuen Welt.
hierdurch erst erhält das logische Skelett einen blühenden Leib und
erfährt es, wozu es eigentlich auf der Welt ist, wofür ich als Beleg
nur auf Schiller und auf Goethe verweisen will, die beide den höchsten
Gipfel ihres Könnens und ihrer Bedeutung für das Geschlecht der
Germanen im innigen Zusammengehen mit Kant erklimmen, dadurch
aber zugleich in ganz anderer Weise als Schelling und Genossen der
Welt zeigen, welche unermessliche Bedeutung dem Denken des grossen
Königsbergers zukommt.1)

Kunst und
Religion.

Und noch bleibt das Verhältnis zwischen Kunst und Religion
zu nennen. Es ist dies ein so mannigfaches und inniges Verhältnis, dass
es schwer fällt, es analytisch zu zergliedern. In dem Zusammenhang,
der uns augenblicklich beschäftigt, wäre Folgendes zu bemerken.
Religion ist bei allen Indogermanen (wie ich es an vielen Stellen
dieses Buches gezeigt habe) immer schöpferisch in dem künstlerischen
Sinne des Wortes und darum kunstverwandt. Unsere Religion war nie
Geschichte, nie chronistische Erklärung, sondern immer eigene innere
Erfahrung und Deutung dieser Erfahrung, sowie der umgebenden
(und somit auch erfahrenen) Natur durch freie Neugestaltung; anderer-
seits ging unsere gesamte Kunst aus religiösen Mythen hervor. Da
wir aber heute es nicht mehr vermögen, dem naiven Trieb der schöpfe-
rischen Mythengestaltung zu folgen, so wird unser Mythus aus dem
Werk der höchsten und tiefsten Besonnenheit hervorzugehen haben.
Der Stoff ist ihm gegeben. Die wahre Quelle aller Religion ist ja heute
nicht eine unbestimmte Ahnung, nicht Naturdeutung, sondern die that-

1) Da Goethe ohne Zweifel hie und da von Schelling beeinflusst worden
ist und dies zu manchem grundfalschen Urteil geführt hat, muss es betont werden,
dass er dennoch Kant stets weit über alle seine Nachfolger gestellt hat. Zur Zeit
als Fichte und Schelling in hoher Blüte standen und Hegel zu schreiben begann,
urteilte Goethe: »das Spekulieren über das Übermenschliche, trotz aller Warnungen
Kant’s, ist ein vergebliches Abmühen«. Als Schelling’s Lebenswerk schon lange
vollendet vorlag (im Jahre 1817), sagte Goethe zu Victor Cousin, er habe von
Neuem begonnen, Kant zu lesen und erfreue sich an der beispiellosen Klarheit
dieses Denkens; auch fügte er hinzu: »Le système de Kant n’est pas détruit«. Sechs
Jahre später klagte Goethe dem Kanzler von Müller, Schelling’s »zweizüngelnde
Ausdrücke« hätten die rationelle Theologie »um ein halbes Jahrhundert zurück-
gebracht«. Die Persönlichkeit Schelling’s sowie gewisse Eigenschaften seines Stils
und gewisse Richtungen seines Denkens haben Goethe oft gefesselt; doch konnte
ein so klarer Geist niemals in den Irrtum verfallen, Kant und Schelling als kom-
mensurable Grössen zu betrachten. (Für die obigen Citate siehe die von Bieder-
mann herausgegebenen Gespräche, I, 207, III, 290, IV, 227.)
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[950/0429] Die Entstehung einer neuen Welt. hierdurch erst erhält das logische Skelett einen blühenden Leib und erfährt es, wozu es eigentlich auf der Welt ist, wofür ich als Beleg nur auf Schiller und auf Goethe verweisen will, die beide den höchsten Gipfel ihres Könnens und ihrer Bedeutung für das Geschlecht der Germanen im innigen Zusammengehen mit Kant erklimmen, dadurch aber zugleich in ganz anderer Weise als Schelling und Genossen der Welt zeigen, welche unermessliche Bedeutung dem Denken des grossen Königsbergers zukommt. 1) Und noch bleibt das Verhältnis zwischen Kunst und Religion zu nennen. Es ist dies ein so mannigfaches und inniges Verhältnis, dass es schwer fällt, es analytisch zu zergliedern. In dem Zusammenhang, der uns augenblicklich beschäftigt, wäre Folgendes zu bemerken. Religion ist bei allen Indogermanen (wie ich es an vielen Stellen dieses Buches gezeigt habe) immer schöpferisch in dem künstlerischen Sinne des Wortes und darum kunstverwandt. Unsere Religion war nie Geschichte, nie chronistische Erklärung, sondern immer eigene innere Erfahrung und Deutung dieser Erfahrung, sowie der umgebenden (und somit auch erfahrenen) Natur durch freie Neugestaltung; anderer- seits ging unsere gesamte Kunst aus religiösen Mythen hervor. Da wir aber heute es nicht mehr vermögen, dem naiven Trieb der schöpfe- rischen Mythengestaltung zu folgen, so wird unser Mythus aus dem Werk der höchsten und tiefsten Besonnenheit hervorzugehen haben. Der Stoff ist ihm gegeben. Die wahre Quelle aller Religion ist ja heute nicht eine unbestimmte Ahnung, nicht Naturdeutung, sondern die that- 1) Da Goethe ohne Zweifel hie und da von Schelling beeinflusst worden ist und dies zu manchem grundfalschen Urteil geführt hat, muss es betont werden, dass er dennoch Kant stets weit über alle seine Nachfolger gestellt hat. Zur Zeit als Fichte und Schelling in hoher Blüte standen und Hegel zu schreiben begann, urteilte Goethe: »das Spekulieren über das Übermenschliche, trotz aller Warnungen Kant’s, ist ein vergebliches Abmühen«. Als Schelling’s Lebenswerk schon lange vollendet vorlag (im Jahre 1817), sagte Goethe zu Victor Cousin, er habe von Neuem begonnen, Kant zu lesen und erfreue sich an der beispiellosen Klarheit dieses Denkens; auch fügte er hinzu: »Le système de Kant n’est pas détruit«. Sechs Jahre später klagte Goethe dem Kanzler von Müller, Schelling’s »zweizüngelnde Ausdrücke« hätten die rationelle Theologie »um ein halbes Jahrhundert zurück- gebracht«. Die Persönlichkeit Schelling’s sowie gewisse Eigenschaften seines Stils und gewisse Richtungen seines Denkens haben Goethe oft gefesselt; doch konnte ein so klarer Geist niemals in den Irrtum verfallen, Kant und Schelling als kom- mensurable Grössen zu betrachten. (Für die obigen Citate siehe die von Bieder- mann herausgegebenen Gespräche, I, 207, III, 290, IV, 227.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 950. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/429>, abgerufen am 27.04.2024.