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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Gestalt Christi immer wieder von neuem geboren werden; sonst bleibt
eitles Dogmengewebe, und die Persönlichkeit -- deren ausserordentliche
Wirkung die einzige Quelle dieser Religion war -- erstarrt zu einem
abstrakten Gedankending. Sobald das Auge sie nicht erblickt, das
Ohr sie nicht vernimmt, schwindet sie immer ferner, und an Stelle
lebendiger und -- wie ich vorhin sagte -- realistischer Religion,
bleibt entweder stupide Idolatrie, oder im Gegenteil ein aristotelisches,
aus lauter abstraktem Spinngewebe errichtetes Vernunftgerüst, wie wir
das bei Dante sahen, bei welchem die einzige sichere Grundlage aller
uns Germanen in Wahrheit möglichen Religion -- die Erfahrung --
vollständig fehlt und der Name Christi konsequenter Weise gar nicht
einmal genannt wird. Nur eine menschliche Kraft ist fähig, die Religion
aus dieser Doppelgefahr -- der Idolatrie und des philosophischen
Deismus1) -- zu erretten: das ist die Kunst. Denn die Kunst allein
vermag es, die ursprüngliche Gestalt, d. h. die ursprüngliche Erfahrung
wieder zu gebären. Ein schlagendes Beispiel von der Art, wie die Kunst
des Genies zwischen jenen beiden Klippen hindurchsteuert, haben wir
an Leonardo da Vinci (vielleicht der schöpferischeste Geist, der je ge-
lebt); seinen Hass gegen jedes Dogma, seine Verachtung für alle Idol-
atrie, zugleich seine Gewalt, den wahren Gehalt des Christentums,
nämlich die Erscheinung Christi selber, zu gestalten, habe ich im
ersten Kapitel hervorgehoben (S. 108); sie bedeuten den Morgen eines
neuen Tages. Ähnliches könnte man an jedem Genie der Kunst von
ihm bis zu Beethoven zeigen.

Hierzu eine Erläuterung, damit das Verhältnis zwischen Kunst
und Religion nicht unklar bleibe.

Ich sagte (S. 777), eine mechanische Weltdeutung vertrage sich
einzig mit einer idealen Religion; ich glaube dies im vorigen Abschnitt
deutlich und unwiderleglich dargethan zu haben. Was kennzeichnet
nun eine ideale Religion? Ihre unbedingte Gegenwärtigkeit. Wir er-

1) Diese zwei Richtungen treten in konkreterer Gestalt vor die Vorstellung,
wenn man sie sich als Jesuitismus und Pietismus (dem Korrelat des Deismus) ver-
gegenwärtigt. Jeder hat nämlich in einem scheinbaren Gegensatz eine Ergänzung,
in die er leicht umschlägt. Das Korrelat des Jesuitismus ist der Materialismus;
wie Paul de Lagarde richtig bemerkt hat: "das Wasser in diesen kommunicierenden
Röhren steht stets gleich hoch" (Deutsche Schr., Ausg. 1891, S. 49); alle jesuitische
Naturwissenschaft ist ebenso streng dogmatisch materialistisch wie nur die irgend
eines Holbach oder de Lamettrie; das Korrelat des abstrakten Deismus ist der
Pietismus mit seinem Buchstabenglauben.

Die Entstehung einer neuen Welt.
Gestalt Christi immer wieder von neuem geboren werden; sonst bleibt
eitles Dogmengewebe, und die Persönlichkeit — deren ausserordentliche
Wirkung die einzige Quelle dieser Religion war — erstarrt zu einem
abstrakten Gedankending. Sobald das Auge sie nicht erblickt, das
Ohr sie nicht vernimmt, schwindet sie immer ferner, und an Stelle
lebendiger und — wie ich vorhin sagte — realistischer Religion,
bleibt entweder stupide Idolatrie, oder im Gegenteil ein aristotelisches,
aus lauter abstraktem Spinngewebe errichtetes Vernunftgerüst, wie wir
das bei Dante sahen, bei welchem die einzige sichere Grundlage aller
uns Germanen in Wahrheit möglichen Religion — die Erfahrung —
vollständig fehlt und der Name Christi konsequenter Weise gar nicht
einmal genannt wird. Nur eine menschliche Kraft ist fähig, die Religion
aus dieser Doppelgefahr — der Idolatrie und des philosophischen
Deismus1) — zu erretten: das ist die Kunst. Denn die Kunst allein
vermag es, die ursprüngliche Gestalt, d. h. die ursprüngliche Erfahrung
wieder zu gebären. Ein schlagendes Beispiel von der Art, wie die Kunst
des Genies zwischen jenen beiden Klippen hindurchsteuert, haben wir
an Leonardo da Vinci (vielleicht der schöpferischeste Geist, der je ge-
lebt); seinen Hass gegen jedes Dogma, seine Verachtung für alle Idol-
atrie, zugleich seine Gewalt, den wahren Gehalt des Christentums,
nämlich die Erscheinung Christi selber, zu gestalten, habe ich im
ersten Kapitel hervorgehoben (S. 108); sie bedeuten den Morgen eines
neuen Tages. Ähnliches könnte man an jedem Genie der Kunst von
ihm bis zu Beethoven zeigen.

Hierzu eine Erläuterung, damit das Verhältnis zwischen Kunst
und Religion nicht unklar bleibe.

Ich sagte (S. 777), eine mechanische Weltdeutung vertrage sich
einzig mit einer idealen Religion; ich glaube dies im vorigen Abschnitt
deutlich und unwiderleglich dargethan zu haben. Was kennzeichnet
nun eine ideale Religion? Ihre unbedingte Gegenwärtigkeit. Wir er-

1) Diese zwei Richtungen treten in konkreterer Gestalt vor die Vorstellung,
wenn man sie sich als Jesuitismus und Pietismus (dem Korrelat des Deismus) ver-
gegenwärtigt. Jeder hat nämlich in einem scheinbaren Gegensatz eine Ergänzung,
in die er leicht umschlägt. Das Korrelat des Jesuitismus ist der Materialismus;
wie Paul de Lagarde richtig bemerkt hat: »das Wasser in diesen kommunicierenden
Röhren steht stets gleich hoch« (Deutsche Schr., Ausg. 1891, S. 49); alle jesuitische
Naturwissenschaft ist ebenso streng dogmatisch materialistisch wie nur die irgend
eines Holbach oder de Lamettrie; das Korrelat des abstrakten Deismus ist der
Pietismus mit seinem Buchstabenglauben.
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[952/0431] Die Entstehung einer neuen Welt. Gestalt Christi immer wieder von neuem geboren werden; sonst bleibt eitles Dogmengewebe, und die Persönlichkeit — deren ausserordentliche Wirkung die einzige Quelle dieser Religion war — erstarrt zu einem abstrakten Gedankending. Sobald das Auge sie nicht erblickt, das Ohr sie nicht vernimmt, schwindet sie immer ferner, und an Stelle lebendiger und — wie ich vorhin sagte — realistischer Religion, bleibt entweder stupide Idolatrie, oder im Gegenteil ein aristotelisches, aus lauter abstraktem Spinngewebe errichtetes Vernunftgerüst, wie wir das bei Dante sahen, bei welchem die einzige sichere Grundlage aller uns Germanen in Wahrheit möglichen Religion — die Erfahrung — vollständig fehlt und der Name Christi konsequenter Weise gar nicht einmal genannt wird. Nur eine menschliche Kraft ist fähig, die Religion aus dieser Doppelgefahr — der Idolatrie und des philosophischen Deismus 1) — zu erretten: das ist die Kunst. Denn die Kunst allein vermag es, die ursprüngliche Gestalt, d. h. die ursprüngliche Erfahrung wieder zu gebären. Ein schlagendes Beispiel von der Art, wie die Kunst des Genies zwischen jenen beiden Klippen hindurchsteuert, haben wir an Leonardo da Vinci (vielleicht der schöpferischeste Geist, der je ge- lebt); seinen Hass gegen jedes Dogma, seine Verachtung für alle Idol- atrie, zugleich seine Gewalt, den wahren Gehalt des Christentums, nämlich die Erscheinung Christi selber, zu gestalten, habe ich im ersten Kapitel hervorgehoben (S. 108); sie bedeuten den Morgen eines neuen Tages. Ähnliches könnte man an jedem Genie der Kunst von ihm bis zu Beethoven zeigen. Hierzu eine Erläuterung, damit das Verhältnis zwischen Kunst und Religion nicht unklar bleibe. Ich sagte (S. 777), eine mechanische Weltdeutung vertrage sich einzig mit einer idealen Religion; ich glaube dies im vorigen Abschnitt deutlich und unwiderleglich dargethan zu haben. Was kennzeichnet nun eine ideale Religion? Ihre unbedingte Gegenwärtigkeit. Wir er- 1) Diese zwei Richtungen treten in konkreterer Gestalt vor die Vorstellung, wenn man sie sich als Jesuitismus und Pietismus (dem Korrelat des Deismus) ver- gegenwärtigt. Jeder hat nämlich in einem scheinbaren Gegensatz eine Ergänzung, in die er leicht umschlägt. Das Korrelat des Jesuitismus ist der Materialismus; wie Paul de Lagarde richtig bemerkt hat: »das Wasser in diesen kommunicierenden Röhren steht stets gleich hoch« (Deutsche Schr., Ausg. 1891, S. 49); alle jesuitische Naturwissenschaft ist ebenso streng dogmatisch materialistisch wie nur die irgend eines Holbach oder de Lamettrie; das Korrelat des abstrakten Deismus ist der Pietismus mit seinem Buchstabenglauben.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 952. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/431>, abgerufen am 27.04.2024.