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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
kannten es deutlich bei den Mystikern: diese streifen die Zeit wie
von den Gliedern ein Gewand ab; sie wollen weder bei der Schöpfung
verweilen (in welcher die materialistischen Religionen die Gewähr für
Gottes Macht finden), noch bei zukünftiger Belohnung und Strafe,
ihnen ist vielmehr "diese Zeit wie Ewigkeit" (S. 885). Die wissen-
schaftliche Weltanschauung, die sich aus der geistigen Arbeit der letzten
Jahrhunderte ergab, hat dieser Empfindung klaren, begrifflichen Aus-
druck verliehen. Von Anfang an hat die germanische Philosophie
"sich um zwei Angeln gedreht"; 1. die Idealität des Raumes und der
Zeit, 2. die Realität des Freiheitsbegriffes.1) Dies ist zugleich -- wenn
ich mich so ausdrücken darf -- die Formel der Kunst. Denn in
ihren Schöpfungen bewährt sich die Freiheit des Willens als ein Reales
und die Zeit -- der inneren, unmechanischen Welt gegenüber -- als
eine verschwimmende, blosse Idee. Kunst ist ewige Gegenwart. Und
zwar ist sie das in zwei Beziehungen. Erstens bannt sie die Zeit:
was Homer gestaltet, ist so jung heute wie vor 3000 Jahren; wer
vor das Grabmal des Lorenzo de' Medici tritt, fühlt sich in unmittel-
barer Gegenwart Michelangelo's; die Kunst des Genies altert nicht.
Ausserdem ist Kunst Gegenwart in dem Sinne, als nur das absolut
Dauerlose wirklich Gegenwart ist. Die Zeit ist teilbar, ins Unendliche
teilbar, ein Blitz ist nur relativ kürzer als ein hundertjähriges Leben,
dieses nur relativ länger als jener; wogegen Gegenwart im Sinne der
Dauerlosigkeit sowohl kürzer als das denkbar kürzeste, wie auch länger
als alle denkbare Ewigkeit ist; dies trifft auf die Kunst zu: ihre Werke
wirken schlechterdings augenblicklich und erwecken zugleich schlecht-
hin die Empfindung der Unvergänglichkeit. Goethe unterscheidet
einmal wahre Kunst von Traum und Schatten, indem er sagt, sie
sei "eine lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen".
Auch dieses so viel missbrauchte Wort "Offenbarung" bekommt im
Lichte unserer germanischen Weltanschauung einen durchaus fass-
lichen, aller Überschwänglichkeit baren Sinn: es heisst das Öffnen
des Thores, welches uns (als mechanische Erscheinung) von der zeit-
losen Welt der Freiheit trennt. Die Kunst ist Thorhüter. Ein Werk
der Kunst -- sagen wir, Michelangelo's Nacht -- schlägt das Thor

1) Vergl. Kant: Fortschritte der Metaphysik, Anhang. Wie man sieht: das
dem Sinnenzeugnis entnommene Reale wird als eine Idee, dagegen die durch
innere Erfahrung gegebene Idee als ein Reales gedeutet. Es ist ganz genau die
kopernikanische Umdrehung: was man bewegt wähnte, ruht, und was man ruhend
wähnte, bewegt sich.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 61

Kunst.
kannten es deutlich bei den Mystikern: diese streifen die Zeit wie
von den Gliedern ein Gewand ab; sie wollen weder bei der Schöpfung
verweilen (in welcher die materialistischen Religionen die Gewähr für
Gottes Macht finden), noch bei zukünftiger Belohnung und Strafe,
ihnen ist vielmehr »diese Zeit wie Ewigkeit« (S. 885). Die wissen-
schaftliche Weltanschauung, die sich aus der geistigen Arbeit der letzten
Jahrhunderte ergab, hat dieser Empfindung klaren, begrifflichen Aus-
druck verliehen. Von Anfang an hat die germanische Philosophie
»sich um zwei Angeln gedreht«; 1. die Idealität des Raumes und der
Zeit, 2. die Realität des Freiheitsbegriffes.1) Dies ist zugleich — wenn
ich mich so ausdrücken darf — die Formel der Kunst. Denn in
ihren Schöpfungen bewährt sich die Freiheit des Willens als ein Reales
und die Zeit — der inneren, unmechanischen Welt gegenüber — als
eine verschwimmende, blosse Idee. Kunst ist ewige Gegenwart. Und
zwar ist sie das in zwei Beziehungen. Erstens bannt sie die Zeit:
was Homer gestaltet, ist so jung heute wie vor 3000 Jahren; wer
vor das Grabmal des Lorenzo de’ Medici tritt, fühlt sich in unmittel-
barer Gegenwart Michelangelo’s; die Kunst des Genies altert nicht.
Ausserdem ist Kunst Gegenwart in dem Sinne, als nur das absolut
Dauerlose wirklich Gegenwart ist. Die Zeit ist teilbar, ins Unendliche
teilbar, ein Blitz ist nur relativ kürzer als ein hundertjähriges Leben,
dieses nur relativ länger als jener; wogegen Gegenwart im Sinne der
Dauerlosigkeit sowohl kürzer als das denkbar kürzeste, wie auch länger
als alle denkbare Ewigkeit ist; dies trifft auf die Kunst zu: ihre Werke
wirken schlechterdings augenblicklich und erwecken zugleich schlecht-
hin die Empfindung der Unvergänglichkeit. Goethe unterscheidet
einmal wahre Kunst von Traum und Schatten, indem er sagt, sie
sei »eine lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen«.
Auch dieses so viel missbrauchte Wort »Offenbarung« bekommt im
Lichte unserer germanischen Weltanschauung einen durchaus fass-
lichen, aller Überschwänglichkeit baren Sinn: es heisst das Öffnen
des Thores, welches uns (als mechanische Erscheinung) von der zeit-
losen Welt der Freiheit trennt. Die Kunst ist Thorhüter. Ein Werk
der Kunst — sagen wir, Michelangelo’s Nacht — schlägt das Thor

1) Vergl. Kant: Fortschritte der Metaphysik, Anhang. Wie man sieht: das
dem Sinnenzeugnis entnommene Reale wird als eine Idee, dagegen die durch
innere Erfahrung gegebene Idee als ein Reales gedeutet. Es ist ganz genau die
kopernikanische Umdrehung: was man bewegt wähnte, ruht, und was man ruhend
wähnte, bewegt sich.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 61
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[953/0432] Kunst. kannten es deutlich bei den Mystikern: diese streifen die Zeit wie von den Gliedern ein Gewand ab; sie wollen weder bei der Schöpfung verweilen (in welcher die materialistischen Religionen die Gewähr für Gottes Macht finden), noch bei zukünftiger Belohnung und Strafe, ihnen ist vielmehr »diese Zeit wie Ewigkeit« (S. 885). Die wissen- schaftliche Weltanschauung, die sich aus der geistigen Arbeit der letzten Jahrhunderte ergab, hat dieser Empfindung klaren, begrifflichen Aus- druck verliehen. Von Anfang an hat die germanische Philosophie »sich um zwei Angeln gedreht«; 1. die Idealität des Raumes und der Zeit, 2. die Realität des Freiheitsbegriffes. 1) Dies ist zugleich — wenn ich mich so ausdrücken darf — die Formel der Kunst. Denn in ihren Schöpfungen bewährt sich die Freiheit des Willens als ein Reales und die Zeit — der inneren, unmechanischen Welt gegenüber — als eine verschwimmende, blosse Idee. Kunst ist ewige Gegenwart. Und zwar ist sie das in zwei Beziehungen. Erstens bannt sie die Zeit: was Homer gestaltet, ist so jung heute wie vor 3000 Jahren; wer vor das Grabmal des Lorenzo de’ Medici tritt, fühlt sich in unmittel- barer Gegenwart Michelangelo’s; die Kunst des Genies altert nicht. Ausserdem ist Kunst Gegenwart in dem Sinne, als nur das absolut Dauerlose wirklich Gegenwart ist. Die Zeit ist teilbar, ins Unendliche teilbar, ein Blitz ist nur relativ kürzer als ein hundertjähriges Leben, dieses nur relativ länger als jener; wogegen Gegenwart im Sinne der Dauerlosigkeit sowohl kürzer als das denkbar kürzeste, wie auch länger als alle denkbare Ewigkeit ist; dies trifft auf die Kunst zu: ihre Werke wirken schlechterdings augenblicklich und erwecken zugleich schlecht- hin die Empfindung der Unvergänglichkeit. Goethe unterscheidet einmal wahre Kunst von Traum und Schatten, indem er sagt, sie sei »eine lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen«. Auch dieses so viel missbrauchte Wort »Offenbarung« bekommt im Lichte unserer germanischen Weltanschauung einen durchaus fass- lichen, aller Überschwänglichkeit baren Sinn: es heisst das Öffnen des Thores, welches uns (als mechanische Erscheinung) von der zeit- losen Welt der Freiheit trennt. Die Kunst ist Thorhüter. Ein Werk der Kunst — sagen wir, Michelangelo’s Nacht — schlägt das Thor 1) Vergl. Kant: Fortschritte der Metaphysik, Anhang. Wie man sieht: das dem Sinnenzeugnis entnommene Reale wird als eine Idee, dagegen die durch innere Erfahrung gegebene Idee als ein Reales gedeutet. Es ist ganz genau die kopernikanische Umdrehung: was man bewegt wähnte, ruht, und was man ruhend wähnte, bewegt sich. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 61

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 953. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/432>, abgerufen am 27.04.2024.