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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
erkannt, häufig kurzweg "die göttliche Kunst", la divina musica ge-
nannt, und zwar mit Recht, da es die Eigentümlichkeit dieser Kunst
ist, nicht aus sinnlich gegebenen Gestalten aufzubauen, sondern, mit
gänzlicher Ausserachtlassung derselben, unmittelbar auf das Gemüt zu
wirken. Dadurch regt sie den inneren Menschen so mächtig an. Jene
tiefe Verwandtschaft zwischen Mechanik und Idealität, auf welche ich
öfters hingewiesen habe (siehe namentlich S. 777 und S. 938 fg.) tritt
uns hier gleichsam in einem Gebilde verkörpert entgegen: die mathe-
matische Kunst par excellence und insofern auch die am meisten
"mechanische", ist zugleich die "idealste", von allem Körperlichen am voll-
kommensten losgelöste. Hiermit hängt eine Unmittelbarkeit der Wirkung
zusammen, d. h. also eine unbedingte Gegenwärtigkeit, welche eine
weitere Verwandtschaft mit echter Religion bedingt: und in der That,
wollte man durch ein Beispiel fasslich machen, was man unter Religion
als Erfahrung meint, so wäre der Hinweis auf musikalische Erfah-
rungen, das heisst, auf den unmittelbaren, überwältigenden und un-
auslöschlichen Eindruck, den das Gemüt von erhabener Musik erhält,
gewiss die allertrefflichste und vielleicht auch die einzig zulässige Illu-
stration. Es giebt Choräle von Johann Sebastian Bach -- und nicht
Choräle allein, doch nenne ich diese, um mich an Allbekanntes zu
halten -- welche im schlichten, buchstäblichen Sinne des Wortes das
"Christlichste" sind, was je erklungen war, seitdem die göttliche Stimme
am Kreuze verstummte.

Mehr will ich in diesem Zusammenhang nicht vorbringen; es
genügt, auf die hohe kulturelle Bedeutung der Tonkunst hingewiesen
und an die unvergleichlichen Grossthaten, welche die "Kunst des Genies"
gerade auf diesem Gebiete seit fünf Jahrhunderten vollbracht hat, erinnert
zu haben. Jeder wird bereit sein, zuzugeben, dass Verallgemeinerungen
über das Verhältnis zwischen Kunst und Kultur keinen Wert besitzen
können, wenn diese beiden Künste, die Dichtkunst und die Tonkunst,
welche -- wie Lessing uns belehrte -- in Wahrheit eine einzige, all-
umfassende Kunst ausmachen, von der Betrachtung ausgeschlossen
bleiben.

Nunmehr sind wir gewappnet, um der kunsthistorischen Ge-Kunst und
Wissenschaft.

schichtsphilosophie, wie sie unter uns heute gäng und gäbe ist, ent-
gegenzutreten: ein unerlässliches Beginnen, da diese Geschichtsphilo-
sophie das Verständnis des Werdens unserer germanischen Kultur völlig
unmöglich macht und dadurch zugleich das Urteil über die Kunst
unseres Jahrhunderts ein geradezu lächerlich schiefes wird.

Kunst.
erkannt, häufig kurzweg »die göttliche Kunst«, la divina musica ge-
nannt, und zwar mit Recht, da es die Eigentümlichkeit dieser Kunst
ist, nicht aus sinnlich gegebenen Gestalten aufzubauen, sondern, mit
gänzlicher Ausserachtlassung derselben, unmittelbar auf das Gemüt zu
wirken. Dadurch regt sie den inneren Menschen so mächtig an. Jene
tiefe Verwandtschaft zwischen Mechanik und Idealität, auf welche ich
öfters hingewiesen habe (siehe namentlich S. 777 und S. 938 fg.) tritt
uns hier gleichsam in einem Gebilde verkörpert entgegen: die mathe-
matische Kunst par excellence und insofern auch die am meisten
»mechanische«, ist zugleich die »idealste«, von allem Körperlichen am voll-
kommensten losgelöste. Hiermit hängt eine Unmittelbarkeit der Wirkung
zusammen, d. h. also eine unbedingte Gegenwärtigkeit, welche eine
weitere Verwandtschaft mit echter Religion bedingt: und in der That,
wollte man durch ein Beispiel fasslich machen, was man unter Religion
als Erfahrung meint, so wäre der Hinweis auf musikalische Erfah-
rungen, das heisst, auf den unmittelbaren, überwältigenden und un-
auslöschlichen Eindruck, den das Gemüt von erhabener Musik erhält,
gewiss die allertrefflichste und vielleicht auch die einzig zulässige Illu-
stration. Es giebt Choräle von Johann Sebastian Bach — und nicht
Choräle allein, doch nenne ich diese, um mich an Allbekanntes zu
halten — welche im schlichten, buchstäblichen Sinne des Wortes das
»Christlichste« sind, was je erklungen war, seitdem die göttliche Stimme
am Kreuze verstummte.

Mehr will ich in diesem Zusammenhang nicht vorbringen; es
genügt, auf die hohe kulturelle Bedeutung der Tonkunst hingewiesen
und an die unvergleichlichen Grossthaten, welche die »Kunst des Genies«
gerade auf diesem Gebiete seit fünf Jahrhunderten vollbracht hat, erinnert
zu haben. Jeder wird bereit sein, zuzugeben, dass Verallgemeinerungen
über das Verhältnis zwischen Kunst und Kultur keinen Wert besitzen
können, wenn diese beiden Künste, die Dichtkunst und die Tonkunst,
welche — wie Lessing uns belehrte — in Wahrheit eine einzige, all-
umfassende Kunst ausmachen, von der Betrachtung ausgeschlossen
bleiben.

Nunmehr sind wir gewappnet, um der kunsthistorischen Ge-Kunst und
Wissenschaft.

schichtsphilosophie, wie sie unter uns heute gäng und gäbe ist, ent-
gegenzutreten: ein unerlässliches Beginnen, da diese Geschichtsphilo-
sophie das Verständnis des Werdens unserer germanischen Kultur völlig
unmöglich macht und dadurch zugleich das Urteil über die Kunst
unseres Jahrhunderts ein geradezu lächerlich schiefes wird.

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[961/0440] Kunst. erkannt, häufig kurzweg »die göttliche Kunst«, la divina musica ge- nannt, und zwar mit Recht, da es die Eigentümlichkeit dieser Kunst ist, nicht aus sinnlich gegebenen Gestalten aufzubauen, sondern, mit gänzlicher Ausserachtlassung derselben, unmittelbar auf das Gemüt zu wirken. Dadurch regt sie den inneren Menschen so mächtig an. Jene tiefe Verwandtschaft zwischen Mechanik und Idealität, auf welche ich öfters hingewiesen habe (siehe namentlich S. 777 und S. 938 fg.) tritt uns hier gleichsam in einem Gebilde verkörpert entgegen: die mathe- matische Kunst par excellence und insofern auch die am meisten »mechanische«, ist zugleich die »idealste«, von allem Körperlichen am voll- kommensten losgelöste. Hiermit hängt eine Unmittelbarkeit der Wirkung zusammen, d. h. also eine unbedingte Gegenwärtigkeit, welche eine weitere Verwandtschaft mit echter Religion bedingt: und in der That, wollte man durch ein Beispiel fasslich machen, was man unter Religion als Erfahrung meint, so wäre der Hinweis auf musikalische Erfah- rungen, das heisst, auf den unmittelbaren, überwältigenden und un- auslöschlichen Eindruck, den das Gemüt von erhabener Musik erhält, gewiss die allertrefflichste und vielleicht auch die einzig zulässige Illu- stration. Es giebt Choräle von Johann Sebastian Bach — und nicht Choräle allein, doch nenne ich diese, um mich an Allbekanntes zu halten — welche im schlichten, buchstäblichen Sinne des Wortes das »Christlichste« sind, was je erklungen war, seitdem die göttliche Stimme am Kreuze verstummte. Mehr will ich in diesem Zusammenhang nicht vorbringen; es genügt, auf die hohe kulturelle Bedeutung der Tonkunst hingewiesen und an die unvergleichlichen Grossthaten, welche die »Kunst des Genies« gerade auf diesem Gebiete seit fünf Jahrhunderten vollbracht hat, erinnert zu haben. Jeder wird bereit sein, zuzugeben, dass Verallgemeinerungen über das Verhältnis zwischen Kunst und Kultur keinen Wert besitzen können, wenn diese beiden Künste, die Dichtkunst und die Tonkunst, welche — wie Lessing uns belehrte — in Wahrheit eine einzige, all- umfassende Kunst ausmachen, von der Betrachtung ausgeschlossen bleiben. Nunmehr sind wir gewappnet, um der kunsthistorischen Ge- schichtsphilosophie, wie sie unter uns heute gäng und gäbe ist, ent- gegenzutreten: ein unerlässliches Beginnen, da diese Geschichtsphilo- sophie das Verständnis des Werdens unserer germanischen Kultur völlig unmöglich macht und dadurch zugleich das Urteil über die Kunst unseres Jahrhunderts ein geradezu lächerlich schiefes wird. Kunst und Wissenschaft.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 961. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/440>, abgerufen am 27.04.2024.