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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
hat -- sofort zu der nur ihm eigenen Harmonie und Polyphonie,
und zwar geht diese Entwickelung von den kerngermanischen Nieder-
landen (der Heimat Beethoven's) aus und behält während mindestens
dreier Jahrhunderte dort, sowie im übrigen Norden, ihren einzigen
festen Halt und ihre produktive Brutstätte.1) Die Italiener sind erst später
und zwar als Schüler der Deutschen Musiker von Bedeutung geworden;
auch Palestrina schliesst sich den Nordländern unmittelbar an.2) Und
was mit solcher Energie angefasst worden war, gedieh fortan ohne
jegliche Unterbrechung. Bereits in Josquin de Pres, einem Zeitgenossen
Raffael's, erlebte die neue germanische Tonkunst ein vollendetes Genie.
Von Josquin an bis zu Beethoven, an der Grenze unseres Jahrhunderts,
hat die Entwickelung dieser göttlichen Kunst -- von der Shakespeare
sagt, sie allein wandle das innerste Wesen des Menschen um -- keine
Unterbrechung erfahren. Die Musik, von Tausenden und Abertausenden
fleissig gepflegt und gefördert, stellte jedem folgendem Genie stets
vollkommenere Mittel zur Verfügung: eine reifere Technik, eine ver-
feinerte Aufnahmefähigkeit.3) Und diese spezifisch germanische Kunst
wurde seit Jahrhunderten als eine ebenfalls spezifisch christliche Kunst

1) Die übliche ausschliessliche Betonung der Niederlande ist, wie Ambros
gezeigt hat, ein geschichtlicher Irrtum; Franzosen, Deutsche, Engländer haben in
grosser Zahl wacker mitgearbeitet; siehe a. a. O. III, 336, sowie den ganzen fol-
genden Abschnitt und das ganze zweite Buch. Interessant ist es zu erfahren, dass
Milton's Vater Tonkünstler war.
2) Höchst bemerkenswert ist es, dass Palestrina's Lehrer, der Franzose Gou-
dimel, ein Calvinist war, der in der Bartholomäusnacht getötet wurde; denn da
Palestrina sich in Stil und Schreibart seinem Lehrer auf das Genaueste anschloss
(Ambros, II, S. 11 des V.), sehen wir, dass jene Reinigung der römischen Kirchen-
musik "von lasciven und schlüpfrigen Gesängen" (wie das Tridentiner Concil in
seiner 22. Sitzung sich ausdrückt), und ihre Zurückführung zu Würde und Schön-
heit, im letzten Grunde ein nordisches, germanisch-protestantisches Werk war.
3) Ich schreibe absichtlich nicht "Gehör", denn nach manchen, jedem Musik-
kundigen bekannten Thatsachen zu urteilen, lässt sich eher auf eine Ab- denn auf
eine Zunahme des Gehörs innerhalb der letzten drei Jahrhunderte schliessen; so z. B.
aus der Vorliebe unserer Vorfahren für vier-, acht- und womöglich noch mehrstimmige
Kompositionen, sowie daraus, dass der Dilettant, der zur Laute sang, nicht die Ober-
stimme vortrug (da dies für gemein galt!) sondern eine Mittelstimme. Man hat
aber schon längst festgestellt, dass Schärfe des Gehörs in keinem notwendigen,
direkten Verhältnis zur Empfänglichkeit für musikalischen Ausdruck steht; zum
grossen Teil ist diese Schärfe lediglich eine Sache der Übung, und man trifft
Völker (z. B. die Türken), bei denen die Unterscheidung eines Vierteltons all-
gemein mit Sicherheit geschieht und die dennoch ohne jegliche musikalische
Phantasie und Schöpferkraft sind.

Die Entstehung einer neuen Welt.
hat — sofort zu der nur ihm eigenen Harmonie und Polyphonie,
und zwar geht diese Entwickelung von den kerngermanischen Nieder-
landen (der Heimat Beethoven’s) aus und behält während mindestens
dreier Jahrhunderte dort, sowie im übrigen Norden, ihren einzigen
festen Halt und ihre produktive Brutstätte.1) Die Italiener sind erst später
und zwar als Schüler der Deutschen Musiker von Bedeutung geworden;
auch Palestrina schliesst sich den Nordländern unmittelbar an.2) Und
was mit solcher Energie angefasst worden war, gedieh fortan ohne
jegliche Unterbrechung. Bereits in Josquin de Près, einem Zeitgenossen
Raffael’s, erlebte die neue germanische Tonkunst ein vollendetes Genie.
Von Josquin an bis zu Beethoven, an der Grenze unseres Jahrhunderts,
hat die Entwickelung dieser göttlichen Kunst — von der Shakespeare
sagt, sie allein wandle das innerste Wesen des Menschen um — keine
Unterbrechung erfahren. Die Musik, von Tausenden und Abertausenden
fleissig gepflegt und gefördert, stellte jedem folgendem Genie stets
vollkommenere Mittel zur Verfügung: eine reifere Technik, eine ver-
feinerte Aufnahmefähigkeit.3) Und diese spezifisch germanische Kunst
wurde seit Jahrhunderten als eine ebenfalls spezifisch christliche Kunst

1) Die übliche ausschliessliche Betonung der Niederlande ist, wie Ambros
gezeigt hat, ein geschichtlicher Irrtum; Franzosen, Deutsche, Engländer haben in
grosser Zahl wacker mitgearbeitet; siehe a. a. O. III, 336, sowie den ganzen fol-
genden Abschnitt und das ganze zweite Buch. Interessant ist es zu erfahren, dass
Milton’s Vater Tonkünstler war.
2) Höchst bemerkenswert ist es, dass Palestrina’s Lehrer, der Franzose Gou-
dimel, ein Calvinist war, der in der Bartholomäusnacht getötet wurde; denn da
Palestrina sich in Stil und Schreibart seinem Lehrer auf das Genaueste anschloss
(Ambros, II, S. 11 des V.), sehen wir, dass jene Reinigung der römischen Kirchen-
musik »von lasciven und schlüpfrigen Gesängen« (wie das Tridentiner Concil in
seiner 22. Sitzung sich ausdrückt), und ihre Zurückführung zu Würde und Schön-
heit, im letzten Grunde ein nordisches, germanisch-protestantisches Werk war.
3) Ich schreibe absichtlich nicht »Gehör«, denn nach manchen, jedem Musik-
kundigen bekannten Thatsachen zu urteilen, lässt sich eher auf eine Ab- denn auf
eine Zunahme des Gehörs innerhalb der letzten drei Jahrhunderte schliessen; so z. B.
aus der Vorliebe unserer Vorfahren für vier-, acht- und womöglich noch mehrstimmige
Kompositionen, sowie daraus, dass der Dilettant, der zur Laute sang, nicht die Ober-
stimme vortrug (da dies für gemein galt!) sondern eine Mittelstimme. Man hat
aber schon längst festgestellt, dass Schärfe des Gehörs in keinem notwendigen,
direkten Verhältnis zur Empfänglichkeit für musikalischen Ausdruck steht; zum
grossen Teil ist diese Schärfe lediglich eine Sache der Übung, und man trifft
Völker (z. B. die Türken), bei denen die Unterscheidung eines Vierteltons all-
gemein mit Sicherheit geschieht und die dennoch ohne jegliche musikalische
Phantasie und Schöpferkraft sind.
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[960/0439] Die Entstehung einer neuen Welt. hat — sofort zu der nur ihm eigenen Harmonie und Polyphonie, und zwar geht diese Entwickelung von den kerngermanischen Nieder- landen (der Heimat Beethoven’s) aus und behält während mindestens dreier Jahrhunderte dort, sowie im übrigen Norden, ihren einzigen festen Halt und ihre produktive Brutstätte. 1) Die Italiener sind erst später und zwar als Schüler der Deutschen Musiker von Bedeutung geworden; auch Palestrina schliesst sich den Nordländern unmittelbar an. 2) Und was mit solcher Energie angefasst worden war, gedieh fortan ohne jegliche Unterbrechung. Bereits in Josquin de Près, einem Zeitgenossen Raffael’s, erlebte die neue germanische Tonkunst ein vollendetes Genie. Von Josquin an bis zu Beethoven, an der Grenze unseres Jahrhunderts, hat die Entwickelung dieser göttlichen Kunst — von der Shakespeare sagt, sie allein wandle das innerste Wesen des Menschen um — keine Unterbrechung erfahren. Die Musik, von Tausenden und Abertausenden fleissig gepflegt und gefördert, stellte jedem folgendem Genie stets vollkommenere Mittel zur Verfügung: eine reifere Technik, eine ver- feinerte Aufnahmefähigkeit. 3) Und diese spezifisch germanische Kunst wurde seit Jahrhunderten als eine ebenfalls spezifisch christliche Kunst 1) Die übliche ausschliessliche Betonung der Niederlande ist, wie Ambros gezeigt hat, ein geschichtlicher Irrtum; Franzosen, Deutsche, Engländer haben in grosser Zahl wacker mitgearbeitet; siehe a. a. O. III, 336, sowie den ganzen fol- genden Abschnitt und das ganze zweite Buch. Interessant ist es zu erfahren, dass Milton’s Vater Tonkünstler war. 2) Höchst bemerkenswert ist es, dass Palestrina’s Lehrer, der Franzose Gou- dimel, ein Calvinist war, der in der Bartholomäusnacht getötet wurde; denn da Palestrina sich in Stil und Schreibart seinem Lehrer auf das Genaueste anschloss (Ambros, II, S. 11 des V.), sehen wir, dass jene Reinigung der römischen Kirchen- musik »von lasciven und schlüpfrigen Gesängen« (wie das Tridentiner Concil in seiner 22. Sitzung sich ausdrückt), und ihre Zurückführung zu Würde und Schön- heit, im letzten Grunde ein nordisches, germanisch-protestantisches Werk war. 3) Ich schreibe absichtlich nicht »Gehör«, denn nach manchen, jedem Musik- kundigen bekannten Thatsachen zu urteilen, lässt sich eher auf eine Ab- denn auf eine Zunahme des Gehörs innerhalb der letzten drei Jahrhunderte schliessen; so z. B. aus der Vorliebe unserer Vorfahren für vier-, acht- und womöglich noch mehrstimmige Kompositionen, sowie daraus, dass der Dilettant, der zur Laute sang, nicht die Ober- stimme vortrug (da dies für gemein galt!) sondern eine Mittelstimme. Man hat aber schon längst festgestellt, dass Schärfe des Gehörs in keinem notwendigen, direkten Verhältnis zur Empfänglichkeit für musikalischen Ausdruck steht; zum grossen Teil ist diese Schärfe lediglich eine Sache der Übung, und man trifft Völker (z. B. die Türken), bei denen die Unterscheidung eines Vierteltons all- gemein mit Sicherheit geschieht und die dennoch ohne jegliche musikalische Phantasie und Schöpferkraft sind.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 960. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/439>, abgerufen am 27.04.2024.