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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
gar nicht gedacht habe -- genügen zum Beweise, dass in keinem
Jahrhundert, seit unsere neue Welt zu entstehen begann, weder ein tief-
gefühltes Bedürfnis nach Kunst, noch weitverbreitete künstlerische
Genialität, noch auch ihr Emporblühen zu herrlichsten Gebilden in
Kunst des Genies gefehlt hat. Calderon steht, wie wir soeben
sahen, nicht allein da; was Goethe von seinem Standhaften Prinzen
sagte, hätte er wohl nicht minder von Shakespeare's Macbeth gesagt;
und inzwischen wuchs die reinste aller Künste, die erst dem germa-
nischen Dichter das Werkzeug, dessen er zur vollen Ausdrucksfähig-
keit bedurfte, liefern sollte -- die Musik -- nach und nach zu nie
geahnter Vollkommenheit heran und gebar ein Genie nach dem andern.
Damit erhellt die Nichtigkeit der Behauptung, Kunst und Wissenschaft
schlössen sich gegenseitig aus: eine Behauptung, die teils auf einer
durchaus willkürlichen und verwerflichen Definition des Begriffes
"Kunst" beruht, teils aber auf Unwissenheit bezüglich der geschicht-
lichen Thatsachen und auf anerzogener Verkehrtheit des Urteils.

Wenn es ein Jahrhundert giebt, welches die Bezeichnung "das
naturwissenschaftliche" verdient, so ist es das sechzehnte; diese Ansicht
Goethe's fanden wir durch das autoritative Gutachten des Justus Liebig
bestätigt (S. 800); das 16. Jahrhundert ist aber das Jahrhundert Raffael's
Michelangelo's und Tizian's, es erlebte noch Leonardo am Anfang
und Rubens am Schlusse; das Jahrhundert der Naturwissenschaft par
excellence
war also zugleich ein unvergleichliches Jahrhundert der
bildenden Kunst. Doch sind alle diese Einteilungen als künstlich und
nichtssagend zu verwerfen.1) Es giebt ja gar keine Jahrhunderte ausser
in unserer Einbildung, und es giebt auch gar keine Beziehung zwischen
Kunst und Wissenschaft ausser einer der gegenseitigen indirekten
Förderung. Es giebt einzig eine grosse, entfesselte, auf allen Gebieten
zugleich emsig thätige Kraft, die Kraft einer bestimmten Rasse. Zwar
wird diese Kraft das eine Mal hier, das andere Mal dort gehemmt

1) Liebhaber derartiger Spielereien mache ich auf Folgendes aufmerksam:
im Jahre von Michelangelo's Tod (1564) wurde Shakespeare geboren, mit Cal-
deron's Tod (1681) fällt die Geburt von Bach fast genau zusammen, und die Leben
von Gluck, Mozart und Haydn führen uns bis genau zu dem Schluss des vorigen
Säculums; so könnte man auf das bildende Jahrhundert ein poetisches und auf dieses
ein musikalisches folgen lassen. Es hat auch Menschen gegeben, die von mathe-
matischen, astronomisch-physikalischen, anatomisch-systematischen und chemischen
Jahrhunderten gesprochen haben -- ein Unsinn, für welchen die heutigen Mathe-
matiker, Physiker, Anatomen u. s. w. sich bestens bedanken werden.

Die Entstehung einer neuen Welt.
gar nicht gedacht habe — genügen zum Beweise, dass in keinem
Jahrhundert, seit unsere neue Welt zu entstehen begann, weder ein tief-
gefühltes Bedürfnis nach Kunst, noch weitverbreitete künstlerische
Genialität, noch auch ihr Emporblühen zu herrlichsten Gebilden in
Kunst des Genies gefehlt hat. Calderon steht, wie wir soeben
sahen, nicht allein da; was Goethe von seinem Standhaften Prinzen
sagte, hätte er wohl nicht minder von Shakespeare’s Macbeth gesagt;
und inzwischen wuchs die reinste aller Künste, die erst dem germa-
nischen Dichter das Werkzeug, dessen er zur vollen Ausdrucksfähig-
keit bedurfte, liefern sollte — die Musik — nach und nach zu nie
geahnter Vollkommenheit heran und gebar ein Genie nach dem andern.
Damit erhellt die Nichtigkeit der Behauptung, Kunst und Wissenschaft
schlössen sich gegenseitig aus: eine Behauptung, die teils auf einer
durchaus willkürlichen und verwerflichen Definition des Begriffes
»Kunst« beruht, teils aber auf Unwissenheit bezüglich der geschicht-
lichen Thatsachen und auf anerzogener Verkehrtheit des Urteils.

Wenn es ein Jahrhundert giebt, welches die Bezeichnung »das
naturwissenschaftliche« verdient, so ist es das sechzehnte; diese Ansicht
Goethe’s fanden wir durch das autoritative Gutachten des Justus Liebig
bestätigt (S. 800); das 16. Jahrhundert ist aber das Jahrhundert Raffael’s
Michelangelo’s und Tizian’s, es erlebte noch Leonardo am Anfang
und Rubens am Schlusse; das Jahrhundert der Naturwissenschaft par
excellence
war also zugleich ein unvergleichliches Jahrhundert der
bildenden Kunst. Doch sind alle diese Einteilungen als künstlich und
nichtssagend zu verwerfen.1) Es giebt ja gar keine Jahrhunderte ausser
in unserer Einbildung, und es giebt auch gar keine Beziehung zwischen
Kunst und Wissenschaft ausser einer der gegenseitigen indirekten
Förderung. Es giebt einzig eine grosse, entfesselte, auf allen Gebieten
zugleich emsig thätige Kraft, die Kraft einer bestimmten Rasse. Zwar
wird diese Kraft das eine Mal hier, das andere Mal dort gehemmt

1) Liebhaber derartiger Spielereien mache ich auf Folgendes aufmerksam:
im Jahre von Michelangelo’s Tod (1564) wurde Shakespeare geboren, mit Cal-
deron’s Tod (1681) fällt die Geburt von Bach fast genau zusammen, und die Leben
von Gluck, Mozart und Haydn führen uns bis genau zu dem Schluss des vorigen
Säculums; so könnte man auf das bildende Jahrhundert ein poetisches und auf dieses
ein musikalisches folgen lassen. Es hat auch Menschen gegeben, die von mathe-
matischen, astronomisch-physikalischen, anatomisch-systematischen und chemischen
Jahrhunderten gesprochen haben — ein Unsinn, für welchen die heutigen Mathe-
matiker, Physiker, Anatomen u. s. w. sich bestens bedanken werden.
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[970/0449] Die Entstehung einer neuen Welt. gar nicht gedacht habe — genügen zum Beweise, dass in keinem Jahrhundert, seit unsere neue Welt zu entstehen begann, weder ein tief- gefühltes Bedürfnis nach Kunst, noch weitverbreitete künstlerische Genialität, noch auch ihr Emporblühen zu herrlichsten Gebilden in Kunst des Genies gefehlt hat. Calderon steht, wie wir soeben sahen, nicht allein da; was Goethe von seinem Standhaften Prinzen sagte, hätte er wohl nicht minder von Shakespeare’s Macbeth gesagt; und inzwischen wuchs die reinste aller Künste, die erst dem germa- nischen Dichter das Werkzeug, dessen er zur vollen Ausdrucksfähig- keit bedurfte, liefern sollte — die Musik — nach und nach zu nie geahnter Vollkommenheit heran und gebar ein Genie nach dem andern. Damit erhellt die Nichtigkeit der Behauptung, Kunst und Wissenschaft schlössen sich gegenseitig aus: eine Behauptung, die teils auf einer durchaus willkürlichen und verwerflichen Definition des Begriffes »Kunst« beruht, teils aber auf Unwissenheit bezüglich der geschicht- lichen Thatsachen und auf anerzogener Verkehrtheit des Urteils. Wenn es ein Jahrhundert giebt, welches die Bezeichnung »das naturwissenschaftliche« verdient, so ist es das sechzehnte; diese Ansicht Goethe’s fanden wir durch das autoritative Gutachten des Justus Liebig bestätigt (S. 800); das 16. Jahrhundert ist aber das Jahrhundert Raffael’s Michelangelo’s und Tizian’s, es erlebte noch Leonardo am Anfang und Rubens am Schlusse; das Jahrhundert der Naturwissenschaft par excellence war also zugleich ein unvergleichliches Jahrhundert der bildenden Kunst. Doch sind alle diese Einteilungen als künstlich und nichtssagend zu verwerfen. 1) Es giebt ja gar keine Jahrhunderte ausser in unserer Einbildung, und es giebt auch gar keine Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft ausser einer der gegenseitigen indirekten Förderung. Es giebt einzig eine grosse, entfesselte, auf allen Gebieten zugleich emsig thätige Kraft, die Kraft einer bestimmten Rasse. Zwar wird diese Kraft das eine Mal hier, das andere Mal dort gehemmt 1) Liebhaber derartiger Spielereien mache ich auf Folgendes aufmerksam: im Jahre von Michelangelo’s Tod (1564) wurde Shakespeare geboren, mit Cal- deron’s Tod (1681) fällt die Geburt von Bach fast genau zusammen, und die Leben von Gluck, Mozart und Haydn führen uns bis genau zu dem Schluss des vorigen Säculums; so könnte man auf das bildende Jahrhundert ein poetisches und auf dieses ein musikalisches folgen lassen. Es hat auch Menschen gegeben, die von mathe- matischen, astronomisch-physikalischen, anatomisch-systematischen und chemischen Jahrhunderten gesprochen haben — ein Unsinn, für welchen die heutigen Mathe- matiker, Physiker, Anatomen u. s. w. sich bestens bedanken werden.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 970. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/449>, abgerufen am 27.04.2024.