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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
oder gefördert, häufig durch reine äussere, zufällige Begebenheiten,
manchmal durch grosse Ideen und durch den Einfluss hervorragender
Persönlichkeiten; so erwacht z. B. die italienische Malerei zur Selb-
ständigkeit und Bedeutung unter dem unmittelbaren Einfluss des Franz
von Assisi und der von seinem Orden geforderten grossen Kirchen
mit Wandgemälden für die Belehrung des unwissenden Volkes; so
erlischt nach und nach in Deutschland, in Folge einer fast dreihundert-
jährigen Epoche von Krieg und Verheerungen und inneren Zerwürf-
nissen, die Lust und die Fähigkeit zu bildender Kunst, weil diese wie
keine andere Reichtum und Ruhe benötigt, um leben zu können;
oder wiederum, die Umsegelung der Welt fördert gewaltig die astro-
nomischen Studien (S. 773), während das Aufkommen der Jesuiten
die blühende Wissenschaft Italiens gänzlich ausrottet (S. 698). Das
alles kann und soll uns der wissenschaftliche Geschichtsforscher -- und
also auch der Kunsthistoriker -- an der Hand konkreter Thatsachen
zeigen, nicht aber unser Urteil durch lendenlahme Verallgemeinerungen
verblöden.

Und dennoch bedürfen wir der Verallgemeinerungen; ohne sieDie Kunst als
ein Ganzes.

giebt es kein Wissen, und darum pendeln wir bis zur Ankunft des so
sehr ersehnten kulturhistorischen Bichat zwischen falschen Gesamt-
anschauungen, welche jede einzelne Thatsache in eine unrichtige Perspek-
tive rücken, und richtigen Einzelkenntnissen, welche wir unfähig sind,
so zu verbinden, dass daraus ein Wissen, d. h. ein alle Erscheinungen
zusammenfassendes Verstehen wird. Doch hoffe ich, die gesamte voran-
gehende Darstellung, vom ersten Kapitel dieses Buches an, wird uns
Material genug geliefert haben, um unseren vorläufigen Notbrücken-
bau hier vollenden zu können. Die grundlegenden Erkenntnisse liegen
jetzt so klar vor Augen und wurden von so vielen Seiten betrachtet,
dass ich eine fast aphoristische Kürze nicht zu entschuldigen brauche.

Um die Geschichte und damit auch die Bedeutung unserer Kunst
in der Zeitenfolge und inmitten der übrigen Lebenserscheinungen zu
verstehen, ist das erste und unbedingte Erfordernis, dass wir sie als ein
Ganzes betrachten, nicht dieses und jenes herausreissen -- etwa gar
"das Gebiet der handwerklichen Produktion" -- und nun über dieses
Bruchstück philosophieren.1) Wo immer und wie immer freie schöpfe-

1) Nebenbei erinnere ich an Goethe's treffende Bemerkung: "die Technik
wird zuletzt der Kunst verderblich" (Sprüche in Prosa); d. h. also der wahren,
schöpferischen Kunst.
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Kunst.
oder gefördert, häufig durch reine äussere, zufällige Begebenheiten,
manchmal durch grosse Ideen und durch den Einfluss hervorragender
Persönlichkeiten; so erwacht z. B. die italienische Malerei zur Selb-
ständigkeit und Bedeutung unter dem unmittelbaren Einfluss des Franz
von Assisi und der von seinem Orden geforderten grossen Kirchen
mit Wandgemälden für die Belehrung des unwissenden Volkes; so
erlischt nach und nach in Deutschland, in Folge einer fast dreihundert-
jährigen Epoche von Krieg und Verheerungen und inneren Zerwürf-
nissen, die Lust und die Fähigkeit zu bildender Kunst, weil diese wie
keine andere Reichtum und Ruhe benötigt, um leben zu können;
oder wiederum, die Umsegelung der Welt fördert gewaltig die astro-
nomischen Studien (S. 773), während das Aufkommen der Jesuiten
die blühende Wissenschaft Italiens gänzlich ausrottet (S. 698). Das
alles kann und soll uns der wissenschaftliche Geschichtsforscher — und
also auch der Kunsthistoriker — an der Hand konkreter Thatsachen
zeigen, nicht aber unser Urteil durch lendenlahme Verallgemeinerungen
verblöden.

Und dennoch bedürfen wir der Verallgemeinerungen; ohne sieDie Kunst als
ein Ganzes.

giebt es kein Wissen, und darum pendeln wir bis zur Ankunft des so
sehr ersehnten kulturhistorischen Bichat zwischen falschen Gesamt-
anschauungen, welche jede einzelne Thatsache in eine unrichtige Perspek-
tive rücken, und richtigen Einzelkenntnissen, welche wir unfähig sind,
so zu verbinden, dass daraus ein Wissen, d. h. ein alle Erscheinungen
zusammenfassendes Verstehen wird. Doch hoffe ich, die gesamte voran-
gehende Darstellung, vom ersten Kapitel dieses Buches an, wird uns
Material genug geliefert haben, um unseren vorläufigen Notbrücken-
bau hier vollenden zu können. Die grundlegenden Erkenntnisse liegen
jetzt so klar vor Augen und wurden von so vielen Seiten betrachtet,
dass ich eine fast aphoristische Kürze nicht zu entschuldigen brauche.

Um die Geschichte und damit auch die Bedeutung unserer Kunst
in der Zeitenfolge und inmitten der übrigen Lebenserscheinungen zu
verstehen, ist das erste und unbedingte Erfordernis, dass wir sie als ein
Ganzes betrachten, nicht dieses und jenes herausreissen — etwa gar
»das Gebiet der handwerklichen Produktion« — und nun über dieses
Bruchstück philosophieren.1) Wo immer und wie immer freie schöpfe-

1) Nebenbei erinnere ich an Goethe’s treffende Bemerkung: »die Technik
wird zuletzt der Kunst verderblich« (Sprüche in Prosa); d. h. also der wahren,
schöpferischen Kunst.
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[971/0450] Kunst. oder gefördert, häufig durch reine äussere, zufällige Begebenheiten, manchmal durch grosse Ideen und durch den Einfluss hervorragender Persönlichkeiten; so erwacht z. B. die italienische Malerei zur Selb- ständigkeit und Bedeutung unter dem unmittelbaren Einfluss des Franz von Assisi und der von seinem Orden geforderten grossen Kirchen mit Wandgemälden für die Belehrung des unwissenden Volkes; so erlischt nach und nach in Deutschland, in Folge einer fast dreihundert- jährigen Epoche von Krieg und Verheerungen und inneren Zerwürf- nissen, die Lust und die Fähigkeit zu bildender Kunst, weil diese wie keine andere Reichtum und Ruhe benötigt, um leben zu können; oder wiederum, die Umsegelung der Welt fördert gewaltig die astro- nomischen Studien (S. 773), während das Aufkommen der Jesuiten die blühende Wissenschaft Italiens gänzlich ausrottet (S. 698). Das alles kann und soll uns der wissenschaftliche Geschichtsforscher — und also auch der Kunsthistoriker — an der Hand konkreter Thatsachen zeigen, nicht aber unser Urteil durch lendenlahme Verallgemeinerungen verblöden. Und dennoch bedürfen wir der Verallgemeinerungen; ohne sie giebt es kein Wissen, und darum pendeln wir bis zur Ankunft des so sehr ersehnten kulturhistorischen Bichat zwischen falschen Gesamt- anschauungen, welche jede einzelne Thatsache in eine unrichtige Perspek- tive rücken, und richtigen Einzelkenntnissen, welche wir unfähig sind, so zu verbinden, dass daraus ein Wissen, d. h. ein alle Erscheinungen zusammenfassendes Verstehen wird. Doch hoffe ich, die gesamte voran- gehende Darstellung, vom ersten Kapitel dieses Buches an, wird uns Material genug geliefert haben, um unseren vorläufigen Notbrücken- bau hier vollenden zu können. Die grundlegenden Erkenntnisse liegen jetzt so klar vor Augen und wurden von so vielen Seiten betrachtet, dass ich eine fast aphoristische Kürze nicht zu entschuldigen brauche. Die Kunst als ein Ganzes. Um die Geschichte und damit auch die Bedeutung unserer Kunst in der Zeitenfolge und inmitten der übrigen Lebenserscheinungen zu verstehen, ist das erste und unbedingte Erfordernis, dass wir sie als ein Ganzes betrachten, nicht dieses und jenes herausreissen — etwa gar »das Gebiet der handwerklichen Produktion« — und nun über dieses Bruchstück philosophieren. 1) Wo immer und wie immer freie schöpfe- 1) Nebenbei erinnere ich an Goethe’s treffende Bemerkung: »die Technik wird zuletzt der Kunst verderblich« (Sprüche in Prosa); d. h. also der wahren, schöpferischen Kunst. 62*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 971. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/450>, abgerufen am 27.04.2024.