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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
was fast jeder Papst auch später gewährte, nämlich die blosse Unter-
suchung abweichender Lehren: "sobald die Bischöfe gesprochen",
schreibt er, "giebt es nichts mehr zu untersuchen, sondern mit
Gewalt soll die Obrigkeit den Irrglauben unterdrücken".1) Wie die
reine Lehre von der Gnade bei ihm nach und nach in die Brüche geht,
muss man in ausführlichen Dogmengeschichten verfolgen; ganz auf-
geben konnte Augustinus sie nie, doch betonte er die Werke so vielfältig,
dass wenn sie auch (nach Augustinus' Auffassung) als "Geschenk Gottes"
Bestandteile der Gnade, sichtbare Erfolge derselben blieben, doch gerade
dieses Verhältnis für das gewöhnliche Auge verloren ging. Dem stets
lauernden Materialismus war hiermit Thür und Thor geöffnet. Sobald
Augustinus den Nachdruck darauf legte, dass ohne das Verdienst der
Werke keine Erlösung statthabe, wurde der Vordersatz, dass die Fähig-
keit zu diesen Werken ein Geschenk der Gnade, diese also Blüten an
dem Baume des Glaubens seien, bald vergessen. Augustinus kommt
selber so weit, dass er von dem relativen Wert verschiedener Werke
spricht und auch den Tod Christi von diesem Standpunkte eines zu
berechnenden Wertes aus betrachtet!2) Das ist Judentum an Stelle
von Christentum. Und natürlich veranlasste dieses Wanken und
Schwanken der zu Grunde liegenden Anschauungen ein ebensolches
in Bezug auf alle Nebenfragen. Auf die Abendmahlsfrage, die gerade
jetzt aufzutauchen begann, komme ich noch zurück; meine kurzen
Andeutungen will ich mit einer letzten beschliessen, einem blossen
Beispiel, damit man sehe, wie weitreichende Folgen aus den inneren
Widersprüchen jener werdenden Kirche im Laufe der Jahrhunderte sich
ergeben sollten. An verschiedenen Orten entwickelt Augustinus mit

1) Eine Lehre, auf welche sich die Kirche später beruft (so z. B. die römische
Synode vom Jahre 680), um von der Civilgewalt zu fordern, sie solle die Orthodoxie
"allherrschend machen und dafür sorgen, dass das Unkraut ausgerissen werde"
(Hefele: a. a. O., III, 258).
2) Alles Nähere über die Gnadenlehre des Augustinus in Harnack's grosser
Dogmengeschichte; der Abriss ist für diese unendlich komplizierte Frage zu kurz.
Doch darf der Laie niemals übersehen, dass, wie verwickelt die Schattierungen
auch sein mögen, die Grundfrage eine ureinfache ist und bleibt. Jene Verwickeltheit
ist einzig eine Folge des spitzfindigen Disputierens und ihre Mannigfaltigkeit ist
bedingt durch die mögliche Mannigfaltigkeit logischer Kombinationen; man gerät
hier auf das Gebiet der Geistesmechanik. Dagegen verhält sich die Religion der
Gnade zu der Religion des Gesetzes und des Verdienstes einfach wie + zu --;
nicht Jeder ist im Stande, sich bei allen Subtilitäten der Mathematiker und noch
weniger bei denen der Theologen etwas zu denken, doch zwischen Plus und Minus
sollte Jeder unterscheiden können.

Der Kampf.
was fast jeder Papst auch später gewährte, nämlich die blosse Unter-
suchung abweichender Lehren: »sobald die Bischöfe gesprochen«,
schreibt er, »giebt es nichts mehr zu untersuchen, sondern mit
Gewalt soll die Obrigkeit den Irrglauben unterdrücken«.1) Wie die
reine Lehre von der Gnade bei ihm nach und nach in die Brüche geht,
muss man in ausführlichen Dogmengeschichten verfolgen; ganz auf-
geben konnte Augustinus sie nie, doch betonte er die Werke so vielfältig,
dass wenn sie auch (nach Augustinus’ Auffassung) als »Geschenk Gottes«
Bestandteile der Gnade, sichtbare Erfolge derselben blieben, doch gerade
dieses Verhältnis für das gewöhnliche Auge verloren ging. Dem stets
lauernden Materialismus war hiermit Thür und Thor geöffnet. Sobald
Augustinus den Nachdruck darauf legte, dass ohne das Verdienst der
Werke keine Erlösung statthabe, wurde der Vordersatz, dass die Fähig-
keit zu diesen Werken ein Geschenk der Gnade, diese also Blüten an
dem Baume des Glaubens seien, bald vergessen. Augustinus kommt
selber so weit, dass er von dem relativen Wert verschiedener Werke
spricht und auch den Tod Christi von diesem Standpunkte eines zu
berechnenden Wertes aus betrachtet!2) Das ist Judentum an Stelle
von Christentum. Und natürlich veranlasste dieses Wanken und
Schwanken der zu Grunde liegenden Anschauungen ein ebensolches
in Bezug auf alle Nebenfragen. Auf die Abendmahlsfrage, die gerade
jetzt aufzutauchen begann, komme ich noch zurück; meine kurzen
Andeutungen will ich mit einer letzten beschliessen, einem blossen
Beispiel, damit man sehe, wie weitreichende Folgen aus den inneren
Widersprüchen jener werdenden Kirche im Laufe der Jahrhunderte sich
ergeben sollten. An verschiedenen Orten entwickelt Augustinus mit

1) Eine Lehre, auf welche sich die Kirche später beruft (so z. B. die römische
Synode vom Jahre 680), um von der Civilgewalt zu fordern, sie solle die Orthodoxie
»allherrschend machen und dafür sorgen, dass das Unkraut ausgerissen werde«
(Hefele: a. a. O., III, 258).
2) Alles Nähere über die Gnadenlehre des Augustinus in Harnack’s grosser
Dogmengeschichte; der Abriss ist für diese unendlich komplizierte Frage zu kurz.
Doch darf der Laie niemals übersehen, dass, wie verwickelt die Schattierungen
auch sein mögen, die Grundfrage eine ureinfache ist und bleibt. Jene Verwickeltheit
ist einzig eine Folge des spitzfindigen Disputierens und ihre Mannigfaltigkeit ist
bedingt durch die mögliche Mannigfaltigkeit logischer Kombinationen; man gerät
hier auf das Gebiet der Geistesmechanik. Dagegen verhält sich die Religion der
Gnade zu der Religion des Gesetzes und des Verdienstes einfach wie + zu —;
nicht Jeder ist im Stande, sich bei allen Subtilitäten der Mathematiker und noch
weniger bei denen der Theologen etwas zu denken, doch zwischen Plus und Minus
sollte Jeder unterscheiden können.
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[598/0077] Der Kampf. was fast jeder Papst auch später gewährte, nämlich die blosse Unter- suchung abweichender Lehren: »sobald die Bischöfe gesprochen«, schreibt er, »giebt es nichts mehr zu untersuchen, sondern mit Gewalt soll die Obrigkeit den Irrglauben unterdrücken«. 1) Wie die reine Lehre von der Gnade bei ihm nach und nach in die Brüche geht, muss man in ausführlichen Dogmengeschichten verfolgen; ganz auf- geben konnte Augustinus sie nie, doch betonte er die Werke so vielfältig, dass wenn sie auch (nach Augustinus’ Auffassung) als »Geschenk Gottes« Bestandteile der Gnade, sichtbare Erfolge derselben blieben, doch gerade dieses Verhältnis für das gewöhnliche Auge verloren ging. Dem stets lauernden Materialismus war hiermit Thür und Thor geöffnet. Sobald Augustinus den Nachdruck darauf legte, dass ohne das Verdienst der Werke keine Erlösung statthabe, wurde der Vordersatz, dass die Fähig- keit zu diesen Werken ein Geschenk der Gnade, diese also Blüten an dem Baume des Glaubens seien, bald vergessen. Augustinus kommt selber so weit, dass er von dem relativen Wert verschiedener Werke spricht und auch den Tod Christi von diesem Standpunkte eines zu berechnenden Wertes aus betrachtet! 2) Das ist Judentum an Stelle von Christentum. Und natürlich veranlasste dieses Wanken und Schwanken der zu Grunde liegenden Anschauungen ein ebensolches in Bezug auf alle Nebenfragen. Auf die Abendmahlsfrage, die gerade jetzt aufzutauchen begann, komme ich noch zurück; meine kurzen Andeutungen will ich mit einer letzten beschliessen, einem blossen Beispiel, damit man sehe, wie weitreichende Folgen aus den inneren Widersprüchen jener werdenden Kirche im Laufe der Jahrhunderte sich ergeben sollten. An verschiedenen Orten entwickelt Augustinus mit 1) Eine Lehre, auf welche sich die Kirche später beruft (so z. B. die römische Synode vom Jahre 680), um von der Civilgewalt zu fordern, sie solle die Orthodoxie »allherrschend machen und dafür sorgen, dass das Unkraut ausgerissen werde« (Hefele: a. a. O., III, 258). 2) Alles Nähere über die Gnadenlehre des Augustinus in Harnack’s grosser Dogmengeschichte; der Abriss ist für diese unendlich komplizierte Frage zu kurz. Doch darf der Laie niemals übersehen, dass, wie verwickelt die Schattierungen auch sein mögen, die Grundfrage eine ureinfache ist und bleibt. Jene Verwickeltheit ist einzig eine Folge des spitzfindigen Disputierens und ihre Mannigfaltigkeit ist bedingt durch die mögliche Mannigfaltigkeit logischer Kombinationen; man gerät hier auf das Gebiet der Geistesmechanik. Dagegen verhält sich die Religion der Gnade zu der Religion des Gesetzes und des Verdienstes einfach wie + zu —; nicht Jeder ist im Stande, sich bei allen Subtilitäten der Mathematiker und noch weniger bei denen der Theologen etwas zu denken, doch zwischen Plus und Minus sollte Jeder unterscheiden können.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 598. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/77>, abgerufen am 26.04.2024.