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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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die Griechen über ihm, weil sie weniger die bleibenden Gestalten p1c_083.002
der Natur verrücken, und ein festes lichtes System p1c_083.003
von Weltregierung voraussetzen, das man bey dem romantischen p1c_083.004
Shakespear umsonst sucht. Deswegen vermögen sie p1c_083.005
auch nie sich zu so heftig schönen Gedanken zu erheben. Sehr p1c_083.006
oft suchen sie das Heftigschöne nur in Bildern, in Gemälden p1c_083.007
der Natur, die uns kalt lassen, wie die Pindarischen Schilderungen p1c_083.008
von Typhon und feuerspeyendem Aetna, das Roßgespann p1c_083.009
der Götter, welches mit einem Satze so weit springt, p1c_083.010
als ein Mann auf einer Warte ins Meer sieht, das Aufthürmen p1c_083.011
des Ossa auf den Pelion, und andere Dinge, welche p1c_083.012
Longin bewundert, die aber nur abentheuerlich, mährchenhaft p1c_083.013
und keineswegs in höherm Sinne des Wortes schön p1c_083.014
sind, so wenig, wie der Vogel Roc und der Magnetenberg p1c_083.015
in den Arabischen Erzählungen. So sehr sich in griechischen p1c_083.016
Dramen, im Philoktet, Ajax, Oedipus Tyrannus, p1c_083.017
zuweilen die Rede erhebt, der Streit erhitzt, es bleibt immer p1c_083.018
ein gewisses Maaß, eine gewisse Nüchternheit. Nur p1c_083.019
selten findet man so einen Zug von Aufbrausen, wie den, p1c_083.020
des ungeduldigen, kampflustigen Ajax in der Jliade: "Vater p1c_083.021
Zevs, verjag dies Dunkel von den Söhnen der Achäer, p1c_083.022
laß es hell werden um uns, laß uns aus den Augen sehen p1c_083.023
und dann tödt' uns im Licht!" - Jm Ganzen genommen p1c_083.024
erregen die griechischen Dichter mehr einen hohen Grad des p1c_083.025
Mitleidens und der Angst, als des Entsetzens, wenn man p1c_083.026
das Gespräch der Klytemnestra als Schatten mit dem schnarchenden p1c_083.027
Furienchor und einige andere Stellen ausnimmt. p1c_083.028
Die Schilderung einer ängstlichen Stimmung kann aber

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die Griechen über ihm, weil sie weniger die bleibenden Gestalten p1c_083.002
der Natur verrücken, und ein festes lichtes System p1c_083.003
von Weltregierung voraussetzen, das man bey dem romantischen p1c_083.004
Shakespear umsonst sucht. Deswegen vermögen sie p1c_083.005
auch nie sich zu so heftig schönen Gedanken zu erheben. Sehr p1c_083.006
oft suchen sie das Heftigschöne nur in Bildern, in Gemälden p1c_083.007
der Natur, die uns kalt lassen, wie die Pindarischen Schilderungen p1c_083.008
von Typhon und feuerspeyendem Aetna, das Roßgespann p1c_083.009
der Götter, welches mit einem Satze so weit springt, p1c_083.010
als ein Mann auf einer Warte ins Meer sieht, das Aufthürmen p1c_083.011
des Ossa auf den Pelion, und andere Dinge, welche p1c_083.012
Longin bewundert, die aber nur abentheuerlich, mährchenhaft p1c_083.013
und keineswegs in höherm Sinne des Wortes schön p1c_083.014
sind, so wenig, wie der Vogel Roc und der Magnetenberg p1c_083.015
in den Arabischen Erzählungen. So sehr sich in griechischen p1c_083.016
Dramen, im Philoktet, Ajax, Oedipus Tyrannus, p1c_083.017
zuweilen die Rede erhebt, der Streit erhitzt, es bleibt immer p1c_083.018
ein gewisses Maaß, eine gewisse Nüchternheit. Nur p1c_083.019
selten findet man so einen Zug von Aufbrausen, wie den, p1c_083.020
des ungeduldigen, kampflustigen Ajax in der Jliade: „Vater p1c_083.021
Zevs, verjag dies Dunkel von den Söhnen der Achäer, p1c_083.022
laß es hell werden um uns, laß uns aus den Augen sehen p1c_083.023
und dann tödt' uns im Licht!“ ─ Jm Ganzen genommen p1c_083.024
erregen die griechischen Dichter mehr einen hohen Grad des p1c_083.025
Mitleidens und der Angst, als des Entsetzens, wenn man p1c_083.026
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/141>, abgerufen am 01.05.2024.