Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_367.001
der Henriade nach eben dieser Orthographie. Ah s'ecria p1c_367.002
Bourbon, quand pourront les Francois, voir d'un p1c_367.003
regne aussi beau fleurir les justes Loix
. Jndessen p1c_367.004
läßt sich diese Gewohnheit, in zweifelhaften Fällen nach der p1c_367.005
Orthographie zu reimen, mit dem Gedanken entschuldigen, p1c_367.006
daß die Aussprache etwas Wandelbares ist, während die p1c_367.007
litera scripta manet. Bey den Engländern zumal ist die p1c_367.008
Aussprache so willkührlich, zuweilen durch die äußern Verhältnisse, p1c_367.009
die verschiedenen Stände und Umstände bestimmt, p1c_367.010
daß die Orthographie doch einen sicherern Maaßstab für den p1c_367.011
Reim giebt. 9) Da der Reim eine rhythmische Reihe abschneidet p1c_367.012
und das Ohr darauf verweilt, so kann er nicht auf p1c_367.013
einem Nebenworte stehen, das keinen hinlänglichen Sinn p1c_367.014
giebt. Bey längern Versen steht also der Reim nicht gut p1c_367.015
auf Adjectiven, zu denen die Substantiven erst im folgenden p1c_367.016
Vers folgen, auf kleinen Verbindungspartikeln, "der p1c_367.017
Verstoß, in den, der alte Vater fiel, war allzuleicht begangen, p1c_367.018
allein, wie beyde sich recht in die Augen sehn" p1c_367.019
u. s. w. Wieland. Dies läßt sich vertheidigen, weil p1c_367.020
der Accent auf dem den liegt. Allein wenn man in eben p1c_367.021
dem Dichter findet: "Und an dem Gürtel hängt ein langer p1c_367.022
Rosenkranz, bey diesem Ansehn wars an solchem Orte p1c_367.023
ganz natürlich ihn sogleich für was er war zu halten" - p1c_367.024
oder: "Den hohen Pelion zusammt den Wurzeln aus - p1c_367.025
der Erde rissen, um ihm dem Ossa aufzuthürmen, - nun p1c_367.026
wurd ein Mann von sieben Fuß daraus" so ist das wider p1c_367.027
die Rege des Reims. Am allerwenigsten kann eine ganz p1c_367.028
kurze Sylbe reimen, die gar keinen Accent hat. Es ist

p1c_367.001
der Henriade nach eben dieser Orthographie. Ah s'ecria p1c_367.002
Bourbon, quand pourront les François, voir d'un p1c_367.003
regne aussi beau fleurir les justes Loix
. Jndessen p1c_367.004
läßt sich diese Gewohnheit, in zweifelhaften Fällen nach der p1c_367.005
Orthographie zu reimen, mit dem Gedanken entschuldigen, p1c_367.006
daß die Aussprache etwas Wandelbares ist, während die p1c_367.007
litera scripta manet. Bey den Engländern zumal ist die p1c_367.008
Aussprache so willkührlich, zuweilen durch die äußern Verhältnisse, p1c_367.009
die verschiedenen Stände und Umstände bestimmt, p1c_367.010
daß die Orthographie doch einen sicherern Maaßstab für den p1c_367.011
Reim giebt. 9) Da der Reim eine rhythmische Reihe abschneidet p1c_367.012
und das Ohr darauf verweilt, so kann er nicht auf p1c_367.013
einem Nebenworte stehen, das keinen hinlänglichen Sinn p1c_367.014
giebt. Bey längern Versen steht also der Reim nicht gut p1c_367.015
auf Adjectiven, zu denen die Substantiven erst im folgenden p1c_367.016
Vers folgen, auf kleinen Verbindungspartikeln, „der p1c_367.017
Verstoß, in den, der alte Vater fiel, war allzuleicht begangen, p1c_367.018
allein, wie beyde sich recht in die Augen sehnp1c_367.019
u. s. w. Wieland. Dies läßt sich vertheidigen, weil p1c_367.020
der Accent auf dem den liegt. Allein wenn man in eben p1c_367.021
dem Dichter findet: „Und an dem Gürtel hängt ein langer p1c_367.022
Rosenkranz, bey diesem Ansehn wars an solchem Orte p1c_367.023
ganz natürlich ihn sogleich für was er war zu halten“ ─ p1c_367.024
oder: „Den hohen Pelion zusammt den Wurzeln ausp1c_367.025
der Erde rissen, um ihm dem Ossa aufzuthürmen, ─ nun p1c_367.026
wurd ein Mann von sieben Fuß daraus“ so ist das wider p1c_367.027
die Rege des Reims. Am allerwenigsten kann eine ganz p1c_367.028
kurze Sylbe reimen, die gar keinen Accent hat. Es ist

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0425" n="367"/><lb n="p1c_367.001"/>
der Henriade nach eben dieser Orthographie. <hi rendition="#aq">Ah s'ecria <lb n="p1c_367.002"/>
Bourbon, quand pourront les <hi rendition="#g">François,</hi> voir d'un <lb n="p1c_367.003"/>
regne aussi beau fleurir les justes <hi rendition="#g">Loix</hi></hi>. Jndessen <lb n="p1c_367.004"/>
läßt sich diese Gewohnheit, in zweifelhaften Fällen nach der <lb n="p1c_367.005"/>
Orthographie zu reimen, mit dem Gedanken entschuldigen, <lb n="p1c_367.006"/>
daß die Aussprache etwas Wandelbares ist, während die <lb n="p1c_367.007"/> <hi rendition="#aq">litera scripta manet</hi>. Bey den Engländern zumal ist die <lb n="p1c_367.008"/>
Aussprache so willkührlich, zuweilen durch die äußern Verhältnisse, <lb n="p1c_367.009"/>
die verschiedenen Stände und Umstände bestimmt, <lb n="p1c_367.010"/>
daß die Orthographie doch einen sicherern Maaßstab für den <lb n="p1c_367.011"/>
Reim giebt. 9) Da der Reim eine rhythmische Reihe abschneidet <lb n="p1c_367.012"/>
und das Ohr darauf verweilt, so kann er nicht auf <lb n="p1c_367.013"/>
einem Nebenworte stehen, das keinen hinlänglichen Sinn <lb n="p1c_367.014"/>
giebt. Bey längern Versen steht also der Reim nicht gut <lb n="p1c_367.015"/>
auf Adjectiven, zu denen die Substantiven erst im folgenden <lb n="p1c_367.016"/>
Vers folgen, auf kleinen Verbindungspartikeln, &#x201E;der <lb n="p1c_367.017"/>
Verstoß, in <hi rendition="#g">den,</hi> der alte Vater fiel, war allzuleicht begangen, <lb n="p1c_367.018"/>
allein, wie beyde sich recht in die Augen <hi rendition="#g">sehn</hi>&#x201C; <lb n="p1c_367.019"/>
u. s. w. <hi rendition="#g">Wieland.</hi> Dies läßt sich vertheidigen, weil <lb n="p1c_367.020"/>
der Accent auf dem <hi rendition="#g">den</hi> liegt. Allein wenn man in eben <lb n="p1c_367.021"/>
dem Dichter findet: &#x201E;Und an dem Gürtel hängt ein langer <lb n="p1c_367.022"/>
Rosen<hi rendition="#g">kranz,</hi> bey diesem Ansehn wars an solchem Orte <lb n="p1c_367.023"/> <hi rendition="#g">ganz</hi> natürlich ihn sogleich für was er war zu halten&#x201C; &#x2500; <lb n="p1c_367.024"/>
oder: &#x201E;Den hohen Pelion zusammt den Wurzeln <hi rendition="#g">aus</hi> &#x2500; <lb n="p1c_367.025"/>
der Erde rissen, um ihm dem Ossa aufzuthürmen, &#x2500; nun <lb n="p1c_367.026"/>
wurd ein Mann von sieben Fuß dar<hi rendition="#g">aus</hi>&#x201C; so ist das wider <lb n="p1c_367.027"/>
die Rege des Reims. Am allerwenigsten kann eine ganz <lb n="p1c_367.028"/>
kurze Sylbe <hi rendition="#g">reimen,</hi> die gar keinen Accent hat. Es ist
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[367/0425] p1c_367.001 der Henriade nach eben dieser Orthographie. Ah s'ecria p1c_367.002 Bourbon, quand pourront les François, voir d'un p1c_367.003 regne aussi beau fleurir les justes Loix. Jndessen p1c_367.004 läßt sich diese Gewohnheit, in zweifelhaften Fällen nach der p1c_367.005 Orthographie zu reimen, mit dem Gedanken entschuldigen, p1c_367.006 daß die Aussprache etwas Wandelbares ist, während die p1c_367.007 litera scripta manet. Bey den Engländern zumal ist die p1c_367.008 Aussprache so willkührlich, zuweilen durch die äußern Verhältnisse, p1c_367.009 die verschiedenen Stände und Umstände bestimmt, p1c_367.010 daß die Orthographie doch einen sicherern Maaßstab für den p1c_367.011 Reim giebt. 9) Da der Reim eine rhythmische Reihe abschneidet p1c_367.012 und das Ohr darauf verweilt, so kann er nicht auf p1c_367.013 einem Nebenworte stehen, das keinen hinlänglichen Sinn p1c_367.014 giebt. Bey längern Versen steht also der Reim nicht gut p1c_367.015 auf Adjectiven, zu denen die Substantiven erst im folgenden p1c_367.016 Vers folgen, auf kleinen Verbindungspartikeln, „der p1c_367.017 Verstoß, in den, der alte Vater fiel, war allzuleicht begangen, p1c_367.018 allein, wie beyde sich recht in die Augen sehn“ p1c_367.019 u. s. w. Wieland. Dies läßt sich vertheidigen, weil p1c_367.020 der Accent auf dem den liegt. Allein wenn man in eben p1c_367.021 dem Dichter findet: „Und an dem Gürtel hängt ein langer p1c_367.022 Rosenkranz, bey diesem Ansehn wars an solchem Orte p1c_367.023 ganz natürlich ihn sogleich für was er war zu halten“ ─ p1c_367.024 oder: „Den hohen Pelion zusammt den Wurzeln aus ─ p1c_367.025 der Erde rissen, um ihm dem Ossa aufzuthürmen, ─ nun p1c_367.026 wurd ein Mann von sieben Fuß daraus“ so ist das wider p1c_367.027 die Rege des Reims. Am allerwenigsten kann eine ganz p1c_367.028 kurze Sylbe reimen, die gar keinen Accent hat. Es ist

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/425
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/425>, abgerufen am 09.05.2024.