Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_444.001
Art Schweben, welches die Jdee des unendlich fortgehenden p1c_444.002
Rhythmus andeutet. Der Deklamator muß ihn also nicht p1c_444.003
zu sehr accentuiren, es sey denn, wo es die Cadenz des Perioden p1c_444.004
verstattet, wie in den Ottave rime am Schluß. p1c_444.005
c) Da der Deklamator ferner eine gemeßne Quantität der p1c_444.006
Sylben in seiner Gewalt hat, so muß er auch das Metrum p1c_444.007
darstellen. Er muß also ein gewisses Maaß als Grundmaaß p1c_444.008
annehmen und darnach die Sylben einrichten. Dieses p1c_444.009
Grundmaaß ist die Kürze. Sie darf weder zu lang, p1c_444.010
noch zu kurz angenommen werden. Ungeachtet es tausend p1c_444.011
Modificationen der Geschwindigkeit giebt, die die Harmonie p1c_444.012
der Rede mit der Empfindung ausmachen, so würde doch p1c_444.013
sowohl das überflüssige Ausdehnen, als auch das unmäßige p1c_444.014
Verkürzen der einzelnen Sylben der Deutlichkeit schaden, zu p1c_444.015
welcher der Deklamator schon als Vorleser verbunden ist. p1c_444.016
Was nun die Darstellung des herrschenden metrischen p1c_444.017
Gesetzes
betrifft, so darf diese nicht vernachlässigt werden. p1c_444.018
Es ist eine irrige Meynung, daß der Deklamator p1c_444.019
das Metrum verbergen müsse. Dann hätte der Dichter p1c_444.020
hierinnen umsonst gearbeitet. Man hört oft das wunderbare p1c_444.021
Lob, mit welchem Vorleser beehrt werden, sie hätten so p1c_444.022
gelesen, daß man gar keine Verse bemerkt hätte. Will man p1c_444.023
damit nun soviel sagen, die Verse müssen vom Deklamator p1c_444.024
nicht kunst- und schulmäßig scandirt werden, so wird dies p1c_444.025
gern eingeräumt. Allein das schulmäßige Scandiren p1c_444.026
stellt gar nicht das Wesen des Verses dar. Das Wesen des p1c_444.027
Verses besteht, wie oben bewiesen wurde, in einem herrschenden p1c_444.028
Maaße, das aber von dem freyen Rhythmus immer

p1c_444.001
Art Schweben, welches die Jdee des unendlich fortgehenden p1c_444.002
Rhythmus andeutet. Der Deklamator muß ihn also nicht p1c_444.003
zu sehr accentuiren, es sey denn, wo es die Cadenz des Perioden p1c_444.004
verstattet, wie in den Ottave rime am Schluß. p1c_444.005
c) Da der Deklamator ferner eine gemeßne Quantität der p1c_444.006
Sylben in seiner Gewalt hat, so muß er auch das Metrum p1c_444.007
darstellen. Er muß also ein gewisses Maaß als Grundmaaß p1c_444.008
annehmen und darnach die Sylben einrichten. Dieses p1c_444.009
Grundmaaß ist die Kürze. Sie darf weder zu lang, p1c_444.010
noch zu kurz angenommen werden. Ungeachtet es tausend p1c_444.011
Modificationen der Geschwindigkeit giebt, die die Harmonie p1c_444.012
der Rede mit der Empfindung ausmachen, so würde doch p1c_444.013
sowohl das überflüssige Ausdehnen, als auch das unmäßige p1c_444.014
Verkürzen der einzelnen Sylben der Deutlichkeit schaden, zu p1c_444.015
welcher der Deklamator schon als Vorleser verbunden ist. p1c_444.016
Was nun die Darstellung des herrschenden metrischen p1c_444.017
Gesetzes
betrifft, so darf diese nicht vernachlässigt werden. p1c_444.018
Es ist eine irrige Meynung, daß der Deklamator p1c_444.019
das Metrum verbergen müsse. Dann hätte der Dichter p1c_444.020
hierinnen umsonst gearbeitet. Man hört oft das wunderbare p1c_444.021
Lob, mit welchem Vorleser beehrt werden, sie hätten so p1c_444.022
gelesen, daß man gar keine Verse bemerkt hätte. Will man p1c_444.023
damit nun soviel sagen, die Verse müssen vom Deklamator p1c_444.024
nicht kunst- und schulmäßig scandirt werden, so wird dies p1c_444.025
gern eingeräumt. Allein das schulmäßige Scandiren p1c_444.026
stellt gar nicht das Wesen des Verses dar. Das Wesen des p1c_444.027
Verses besteht, wie oben bewiesen wurde, in einem herrschenden p1c_444.028
Maaße, das aber von dem freyen Rhythmus immer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0502" n="444"/><lb n="p1c_444.001"/>
Art Schweben, welches die Jdee des unendlich fortgehenden <lb n="p1c_444.002"/>
Rhythmus andeutet. Der Deklamator muß ihn also nicht <lb n="p1c_444.003"/>
zu sehr accentuiren, es sey denn, wo es die Cadenz des Perioden <lb n="p1c_444.004"/>
verstattet, wie in den <hi rendition="#aq">Ottave rime</hi> am Schluß. <lb n="p1c_444.005"/> <hi rendition="#aq">c</hi>) Da der Deklamator ferner eine gemeßne Quantität der <lb n="p1c_444.006"/>
Sylben in seiner Gewalt hat, so muß er auch das Metrum <lb n="p1c_444.007"/>
darstellen. Er muß also ein gewisses Maaß als <hi rendition="#g">Grundmaaß</hi> <lb n="p1c_444.008"/>
annehmen und darnach die Sylben einrichten. Dieses <lb n="p1c_444.009"/> <hi rendition="#g">Grundmaaß</hi> ist die <hi rendition="#g">Kürze.</hi> Sie darf weder zu lang, <lb n="p1c_444.010"/>
noch zu kurz angenommen werden. Ungeachtet es tausend <lb n="p1c_444.011"/>
Modificationen der Geschwindigkeit giebt, die die Harmonie <lb n="p1c_444.012"/>
der Rede mit der Empfindung ausmachen, so würde doch <lb n="p1c_444.013"/>
sowohl das überflüssige Ausdehnen, als auch das unmäßige <lb n="p1c_444.014"/>
Verkürzen der einzelnen Sylben der Deutlichkeit schaden, zu <lb n="p1c_444.015"/>
welcher der Deklamator schon als Vorleser verbunden ist. <lb n="p1c_444.016"/>
Was nun die Darstellung des <hi rendition="#g">herrschenden metrischen <lb n="p1c_444.017"/>
Gesetzes</hi> betrifft, so darf diese nicht vernachlässigt werden. <lb n="p1c_444.018"/>
Es ist eine irrige Meynung, daß der Deklamator <lb n="p1c_444.019"/>
das Metrum verbergen müsse. Dann hätte der Dichter <lb n="p1c_444.020"/>
hierinnen umsonst gearbeitet. Man hört oft das wunderbare <lb n="p1c_444.021"/>
Lob, mit welchem Vorleser beehrt werden, sie hätten so <lb n="p1c_444.022"/>
gelesen, daß man gar keine Verse bemerkt hätte. Will man <lb n="p1c_444.023"/>
damit nun soviel sagen, die Verse müssen vom Deklamator <lb n="p1c_444.024"/>
nicht kunst- und schulmäßig scandirt werden, so wird dies <lb n="p1c_444.025"/>
gern eingeräumt. Allein das <hi rendition="#g">schulmäßige</hi> Scandiren <lb n="p1c_444.026"/>
stellt gar nicht das Wesen des Verses dar. Das Wesen des <lb n="p1c_444.027"/>
Verses besteht, wie oben bewiesen wurde, in einem herrschenden     <lb n="p1c_444.028"/>
Maaße, das aber von dem freyen Rhythmus immer
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[444/0502] p1c_444.001 Art Schweben, welches die Jdee des unendlich fortgehenden p1c_444.002 Rhythmus andeutet. Der Deklamator muß ihn also nicht p1c_444.003 zu sehr accentuiren, es sey denn, wo es die Cadenz des Perioden p1c_444.004 verstattet, wie in den Ottave rime am Schluß. p1c_444.005 c) Da der Deklamator ferner eine gemeßne Quantität der p1c_444.006 Sylben in seiner Gewalt hat, so muß er auch das Metrum p1c_444.007 darstellen. Er muß also ein gewisses Maaß als Grundmaaß p1c_444.008 annehmen und darnach die Sylben einrichten. Dieses p1c_444.009 Grundmaaß ist die Kürze. Sie darf weder zu lang, p1c_444.010 noch zu kurz angenommen werden. Ungeachtet es tausend p1c_444.011 Modificationen der Geschwindigkeit giebt, die die Harmonie p1c_444.012 der Rede mit der Empfindung ausmachen, so würde doch p1c_444.013 sowohl das überflüssige Ausdehnen, als auch das unmäßige p1c_444.014 Verkürzen der einzelnen Sylben der Deutlichkeit schaden, zu p1c_444.015 welcher der Deklamator schon als Vorleser verbunden ist. p1c_444.016 Was nun die Darstellung des herrschenden metrischen p1c_444.017 Gesetzes betrifft, so darf diese nicht vernachlässigt werden. p1c_444.018 Es ist eine irrige Meynung, daß der Deklamator p1c_444.019 das Metrum verbergen müsse. Dann hätte der Dichter p1c_444.020 hierinnen umsonst gearbeitet. Man hört oft das wunderbare p1c_444.021 Lob, mit welchem Vorleser beehrt werden, sie hätten so p1c_444.022 gelesen, daß man gar keine Verse bemerkt hätte. Will man p1c_444.023 damit nun soviel sagen, die Verse müssen vom Deklamator p1c_444.024 nicht kunst- und schulmäßig scandirt werden, so wird dies p1c_444.025 gern eingeräumt. Allein das schulmäßige Scandiren p1c_444.026 stellt gar nicht das Wesen des Verses dar. Das Wesen des p1c_444.027 Verses besteht, wie oben bewiesen wurde, in einem herrschenden p1c_444.028 Maaße, das aber von dem freyen Rhythmus immer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/502
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/502>, abgerufen am 27.04.2024.