Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_445.001
wieder aufgehoben wird. Der Dichter hatte seinen guten p1c_445.002
Grund, warum er einen herrschenden Hauptfuß p1c_445.003
wählte. Der Deklamator muß also den Gang dieses p1c_445.004
herrschenden Fußes ausdrücken und das Ohr daran gewöhnen. p1c_445.005
Zugleich muß er aber auch alle Schönheiten der mannichfaltigen p1c_445.006
Cäsur ausdrücken, mit welcher der freye Rhythmus p1c_445.007
in das Versmaaß eingreift. Der Deklamator muß p1c_445.008
den Vers durch Hauptcäsuren ungleich eintheilen, doch p1c_445.009
in jeder so abgeschnittnen Tonreihe das metrische Gesetz hören p1c_445.010
lassen. Hat der Dichter eine Hauptcäsur zu viel gebraucht, p1c_445.011
muß der Deklamator dies freylich verbergen. Auch p1c_445.012
durch besondre Nebencäsuren, welche von den kunstmäßigen p1c_445.013
Hauptfüßen verschiedene Wortfüße bilden, muß p1c_445.014
er das Metrum zuweilen aufheben, jedoch den regelmäßigen p1c_445.015
Gang immer wieder herstellen. Was für Worte der Empfindung p1c_445.016
nach metrisch zusammen gehören, um einen vom p1c_445.017
künstlichen Fuß verschiedenen Wortfuß hervorzubringen, p1c_445.018
darüber wird dem Deklamator mehr die Natur, als p1c_445.019
die Regel Auskunft geben. So wird jeder Vorleser von p1c_445.020
Gefühl den Vers des Homer Il. a. 52 durch eine Nebencäsur p1c_445.021
folgendermaßen theilen: Ball' | aiei de purai nekuon p1c_445.022
kaionto thameiai. Er wird den letzten Theil des Verses p1c_445.023
ohne alle weitere Cäsur lesen, weil dadurch das Bild der p1c_445.024
immer fort brennenden Scheiterhaufen am besten ausgedrückt p1c_445.025
wird. Die Elegie von Klopstock: Die künftige p1c_445.026
Geliebte,
endet mit folgendem Distichon: "Kaum daß p1c_445.027
noch die fühlende selbst, die unsterbliche Seele - ganz p1c_445.028
die | volle Gewalt | dieser Empfindungen faßt." Wollte

p1c_445.001
wieder aufgehoben wird. Der Dichter hatte seinen guten p1c_445.002
Grund, warum er einen herrschenden Hauptfuß p1c_445.003
wählte. Der Deklamator muß also den Gang dieses p1c_445.004
herrschenden Fußes ausdrücken und das Ohr daran gewöhnen. p1c_445.005
Zugleich muß er aber auch alle Schönheiten der mannichfaltigen p1c_445.006
Cäsur ausdrücken, mit welcher der freye Rhythmus p1c_445.007
in das Versmaaß eingreift. Der Deklamator muß p1c_445.008
den Vers durch Hauptcäsuren ungleich eintheilen, doch p1c_445.009
in jeder so abgeschnittnen Tonreihe das metrische Gesetz hören p1c_445.010
lassen. Hat der Dichter eine Hauptcäsur zu viel gebraucht, p1c_445.011
muß der Deklamator dies freylich verbergen. Auch p1c_445.012
durch besondre Nebencäsuren, welche von den kunstmäßigen p1c_445.013
Hauptfüßen verschiedene Wortfüße bilden, muß p1c_445.014
er das Metrum zuweilen aufheben, jedoch den regelmäßigen p1c_445.015
Gang immer wieder herstellen. Was für Worte der Empfindung p1c_445.016
nach metrisch zusammen gehören, um einen vom p1c_445.017
künstlichen Fuß verschiedenen Wortfuß hervorzubringen, p1c_445.018
darüber wird dem Deklamator mehr die Natur, als p1c_445.019
die Regel Auskunft geben. So wird jeder Vorleser von p1c_445.020
Gefühl den Vers des Homer Il. α. 52 durch eine Nebencäsur p1c_445.021
folgendermaßen theilen: Βαλλ' | αἰει δε πυραι νεκυων p1c_445.022
καιοντο θαμειαι. Er wird den letzten Theil des Verses p1c_445.023
ohne alle weitere Cäsur lesen, weil dadurch das Bild der p1c_445.024
immer fort brennenden Scheiterhaufen am besten ausgedrückt p1c_445.025
wird. Die Elegie von Klopstock: Die künftige p1c_445.026
Geliebte,
endet mit folgendem Distichon: „Kaum daß p1c_445.027
noch die fühlende selbst, die unsterbliche Seele ─ ganz p1c_445.028
die | volle Gewalt | dieser Empfindungen faßt.“ Wollte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0503" n="445"/><lb n="p1c_445.001"/>
wieder aufgehoben wird. Der Dichter hatte seinen guten <lb n="p1c_445.002"/>
Grund, warum er einen <hi rendition="#g">herrschenden Hauptfuß</hi> <lb n="p1c_445.003"/>
wählte. Der Deklamator muß also den <hi rendition="#g">Gang</hi> dieses <lb n="p1c_445.004"/>
herrschenden Fußes ausdrücken und das Ohr daran gewöhnen. <lb n="p1c_445.005"/>
Zugleich muß er aber auch alle Schönheiten der mannichfaltigen <lb n="p1c_445.006"/>
Cäsur ausdrücken, mit welcher der freye Rhythmus <lb n="p1c_445.007"/>
in das Versmaaß eingreift. Der Deklamator muß <lb n="p1c_445.008"/>
den Vers durch <hi rendition="#g">Hauptcäsuren</hi> ungleich eintheilen, doch <lb n="p1c_445.009"/>
in jeder so abgeschnittnen Tonreihe das metrische Gesetz hören <lb n="p1c_445.010"/>
lassen. Hat der Dichter eine Hauptcäsur zu viel gebraucht, <lb n="p1c_445.011"/>
muß der Deklamator dies freylich verbergen. Auch <lb n="p1c_445.012"/>
durch besondre <hi rendition="#g">Nebencäsuren,</hi> welche von den kunstmäßigen <lb n="p1c_445.013"/>
Hauptfüßen verschiedene <hi rendition="#g">Wortfüße</hi> bilden, muß <lb n="p1c_445.014"/>
er das Metrum zuweilen aufheben, jedoch den regelmäßigen <lb n="p1c_445.015"/>
Gang immer wieder herstellen. Was für Worte der Empfindung <lb n="p1c_445.016"/>
nach <hi rendition="#g">metrisch</hi> zusammen gehören, um einen vom <lb n="p1c_445.017"/> <hi rendition="#g">künstlichen</hi> Fuß verschiedenen <hi rendition="#g">Wortfuß</hi> hervorzubringen, <lb n="p1c_445.018"/>
darüber wird dem Deklamator mehr die Natur, als <lb n="p1c_445.019"/>
die Regel Auskunft geben. So wird jeder Vorleser von <lb n="p1c_445.020"/>
Gefühl den Vers des Homer <hi rendition="#aq">Il. <foreign xml:lang="grc">&#x03B1;</foreign></hi>. 52 durch eine Nebencäsur <lb n="p1c_445.021"/>
folgendermaßen theilen: <foreign xml:lang="grc">&#x0392;&#x03B1;&#x03BB;&#x03BB;</foreign>' | <foreign xml:lang="grc">&#x03B1;&#x1F30;&#x03B5;&#x03B9; &#x03B4;&#x03B5; &#x03C0;&#x03C5;&#x03C1;&#x03B1;&#x03B9; &#x03BD;&#x03B5;&#x03BA;&#x03C5;&#x03C9;&#x03BD;</foreign> <lb n="p1c_445.022"/>
<foreign xml:lang="grc">&#x03BA;&#x03B1;&#x03B9;&#x03BF;&#x03BD;&#x03C4;&#x03BF; &#x03B8;&#x03B1;&#x03BC;&#x03B5;&#x03B9;&#x03B1;&#x03B9;</foreign>. Er wird den letzten Theil des Verses <lb n="p1c_445.023"/>
ohne alle weitere Cäsur lesen, weil dadurch das Bild der <lb n="p1c_445.024"/>
immer fort brennenden Scheiterhaufen am besten ausgedrückt <lb n="p1c_445.025"/>
wird. Die Elegie von Klopstock: <hi rendition="#g">Die künftige <lb n="p1c_445.026"/>
Geliebte,</hi> endet mit folgendem Distichon: &#x201E;Kaum daß <lb n="p1c_445.027"/>
noch die fühlende selbst, die unsterbliche Seele &#x2500; ganz <lb n="p1c_445.028"/>
die | volle Gewalt | dieser Empfindungen faßt.&#x201C; Wollte
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[445/0503] p1c_445.001 wieder aufgehoben wird. Der Dichter hatte seinen guten p1c_445.002 Grund, warum er einen herrschenden Hauptfuß p1c_445.003 wählte. Der Deklamator muß also den Gang dieses p1c_445.004 herrschenden Fußes ausdrücken und das Ohr daran gewöhnen. p1c_445.005 Zugleich muß er aber auch alle Schönheiten der mannichfaltigen p1c_445.006 Cäsur ausdrücken, mit welcher der freye Rhythmus p1c_445.007 in das Versmaaß eingreift. Der Deklamator muß p1c_445.008 den Vers durch Hauptcäsuren ungleich eintheilen, doch p1c_445.009 in jeder so abgeschnittnen Tonreihe das metrische Gesetz hören p1c_445.010 lassen. Hat der Dichter eine Hauptcäsur zu viel gebraucht, p1c_445.011 muß der Deklamator dies freylich verbergen. Auch p1c_445.012 durch besondre Nebencäsuren, welche von den kunstmäßigen p1c_445.013 Hauptfüßen verschiedene Wortfüße bilden, muß p1c_445.014 er das Metrum zuweilen aufheben, jedoch den regelmäßigen p1c_445.015 Gang immer wieder herstellen. Was für Worte der Empfindung p1c_445.016 nach metrisch zusammen gehören, um einen vom p1c_445.017 künstlichen Fuß verschiedenen Wortfuß hervorzubringen, p1c_445.018 darüber wird dem Deklamator mehr die Natur, als p1c_445.019 die Regel Auskunft geben. So wird jeder Vorleser von p1c_445.020 Gefühl den Vers des Homer Il. α. 52 durch eine Nebencäsur p1c_445.021 folgendermaßen theilen: Βαλλ' | αἰει δε πυραι νεκυων p1c_445.022 καιοντο θαμειαι. Er wird den letzten Theil des Verses p1c_445.023 ohne alle weitere Cäsur lesen, weil dadurch das Bild der p1c_445.024 immer fort brennenden Scheiterhaufen am besten ausgedrückt p1c_445.025 wird. Die Elegie von Klopstock: Die künftige p1c_445.026 Geliebte, endet mit folgendem Distichon: „Kaum daß p1c_445.027 noch die fühlende selbst, die unsterbliche Seele ─ ganz p1c_445.028 die | volle Gewalt | dieser Empfindungen faßt.“ Wollte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/503
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/503>, abgerufen am 27.04.2024.