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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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Menschheit nicht eine solche Uebersicht ihrer Geschichte seyn! p1c_458.002
So wenig der einzelne Mensch, wenn er sein eigenes Schicksal p1c_458.003
mit dem Verstande begreifen und erklären will, trotz alles p1c_458.004
Raisonnirens über den Gang einer Vorsehung, Trost findet, p1c_458.005
und nur die Augenblicke seines Daseyns für selig erkennt, p1c_458.006
wo er sich mit religiösem Glauben dem unerforschlichen p1c_458.007
Grundquell des Ganzen hingiebt, eben so wenig kann p1c_458.008
sich die ganze Menschheit mit einer blos historischen, p1c_458.009
von dem Menschenverstand geordneten Ansicht der p1c_458.010
Weltbegebenheiten genügen lassen. Nur durch ein völliges p1c_458.011
Ermatten aller höheren Seelenkräfte ist es begreiflich, wie p1c_458.012
gemeine und seichte Köpfe dem Menschen das Jnteresse p1c_458.013
für eine religiöse Weltgeschichte haben hinwegschwatzen p1c_458.014
können, das so tief in unserer Natur gegründet p1c_458.015
ist. Die menschliche Geschichte, welche die Begebenheiten p1c_458.016
aus den nähern Ursachen sowohl psychologisch als physisch p1c_458.017
zu erklären sucht, erscheint schon dann so ganz lückenhaft p1c_458.018
und unvollkommen, wenn sie Geschichte der Zeit p1c_458.019
und des gegenwärtigen Augenblicks ist. Um wie viel mehr p1c_458.020
wird sie nicht zu einem erbärmlichen Flickwerk, wenn sie sich p1c_458.021
an die Darstellung eines größern Ganzen wagt. Gesetzt p1c_458.022
auch, daß es ihr gelänge, das Wundervolle aus manchen p1c_458.023
einzelnen Begebenheiten hinweg zu raisonniren, was p1c_458.024
hat sie weiter gethan, als die unentbehrliche Jdee des Wunderbaren p1c_458.025
weiter hinaus geschoben? Wo das ganze Daseyn p1c_458.026
ein unerforschliches Wunder ist, muß der menschliche p1c_458.027
Verstand seine Ohnmacht eingestehen, und die Belehrung p1c_458.028
des Menschengeschlechts einer höhern, vom Schicksal selbst

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Menschheit nicht eine solche Uebersicht ihrer Geschichte seyn! p1c_458.002
So wenig der einzelne Mensch, wenn er sein eigenes Schicksal p1c_458.003
mit dem Verstande begreifen und erklären will, trotz alles p1c_458.004
Raisonnirens über den Gang einer Vorsehung, Trost findet, p1c_458.005
und nur die Augenblicke seines Daseyns für selig erkennt, p1c_458.006
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Grundquell des Ganzen hingiebt, eben so wenig kann p1c_458.008
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/516>, abgerufen am 27.04.2024.