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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Arbeit und Muße.
also ist die neue Bedeutung, welche die Hellenen der Muße
gegeben haben, daß sie nicht mehr das Gegentheil der An¬
strengung ist, wie bei den Barbaren, welche nach der Arbeit
nichts Anderes zu thun wissen, als sich der Völlerei und
stumpfen Trägheit zu ergeben. Die Griechen erkannten, daß
ohne Thätigkeit kein Lebensgenuß vorhanden sei. Die Muße
soll also nur eine andere Art der Thätigkeit sein; die Thä¬
tigkeit der Muße hat aber das Eigenthümliche, daß sie durch
keinerlei äußere Bedürfnisse hervorgerufen ist, sondern eine
vollkommen freiwillige, selbstgewählte und freudige, deshalb
aber keine launenhafte und regellose, sondern eine so geord¬
nete Thätigkeit, daß sich alle geistigen und körperlichen Kräfte
dabei harmonisch entfalten, und indem sie dafür gewisse Nor¬
men aufgestellt haben, wie sie ihrem Volkscharakter entsprachen,
haben sie den Genuß der Muße zu einer nationalen Kunst
ausgebildet, welche mehr als alles Andere das Wesen des
hellenischen Volks zum Ausdruck bringt.

Als die zehntausend Griechenherzen beim Anblick des
Meers wieder aufathmeten, was war das Erste, womit die
matten Krieger ihre Rettung feierten, und der erste Genuß der
Muße nach unsäglicher Noth? Sie richteten am Gestade eine
Rennbahn ein, um sich in fröhlichem Wettkampfe wieder als
Hellenen zu fühlen. Auf dem unvergleichlichen Bilde helleni¬
schen Lebens, wie es die Ficoronische Ciste uns vor Augen
stellt, sehen wir einen der Argonauten, der eben dem Schiffs¬
raum entstiegen ist, an einem aufgehängten Schlauche Uebungen
des Faustkampfes anstellen, nur um der Freude willen, nach
langer Haft die Glieder wieder frei bewegen und alle Muskeln
anspannen zu können, während der dickbäuchige Silen, welcher
daneben sitzt, den Thoren auslacht, welcher sich ohne Noth
anstrengt.

Der Gymnastik, welche die leiblichen Kräfte zu harmoni¬
scher Thätigkeit anspannt und dadurch eine unversiegbare Quelle
froher Befriedigung wird, entspricht die geistige Thätigkeit,
die freie, sich selbst regelnde, kunstgerechte, welche der Muße
Inhalt und Weihe giebt. Die Mnsik hat, wie Aristoteles sagt,

Arbeit und Muße.
alſo iſt die neue Bedeutung, welche die Hellenen der Muße
gegeben haben, daß ſie nicht mehr das Gegentheil der An¬
ſtrengung iſt, wie bei den Barbaren, welche nach der Arbeit
nichts Anderes zu thun wiſſen, als ſich der Völlerei und
ſtumpfen Trägheit zu ergeben. Die Griechen erkannten, daß
ohne Thätigkeit kein Lebensgenuß vorhanden ſei. Die Muße
ſoll alſo nur eine andere Art der Thätigkeit ſein; die Thä¬
tigkeit der Muße hat aber das Eigenthümliche, daß ſie durch
keinerlei äußere Bedürfniſſe hervorgerufen iſt, ſondern eine
vollkommen freiwillige, ſelbſtgewählte und freudige, deshalb
aber keine launenhafte und regelloſe, ſondern eine ſo geord¬
nete Thätigkeit, daß ſich alle geiſtigen und körperlichen Kräfte
dabei harmoniſch entfalten, und indem ſie dafür gewiſſe Nor¬
men aufgeſtellt haben, wie ſie ihrem Volkscharakter entſprachen,
haben ſie den Genuß der Muße zu einer nationalen Kunſt
ausgebildet, welche mehr als alles Andere das Weſen des
helleniſchen Volks zum Ausdruck bringt.

Als die zehntauſend Griechenherzen beim Anblick des
Meers wieder aufathmeten, was war das Erſte, womit die
matten Krieger ihre Rettung feierten, und der erſte Genuß der
Muße nach unſäglicher Noth? Sie richteten am Geſtade eine
Rennbahn ein, um ſich in fröhlichem Wettkampfe wieder als
Hellenen zu fühlen. Auf dem unvergleichlichen Bilde helleni¬
ſchen Lebens, wie es die Ficoroniſche Ciſte uns vor Augen
ſtellt, ſehen wir einen der Argonauten, der eben dem Schiffs¬
raum entſtiegen iſt, an einem aufgehängten Schlauche Uebungen
des Fauſtkampfes anſtellen, nur um der Freude willen, nach
langer Haft die Glieder wieder frei bewegen und alle Muskeln
anſpannen zu können, während der dickbäuchige Silen, welcher
daneben ſitzt, den Thoren auslacht, welcher ſich ohne Noth
anſtrengt.

Der Gymnaſtik, welche die leiblichen Kräfte zu harmoni¬
ſcher Thätigkeit anſpannt und dadurch eine unverſiegbare Quelle
froher Befriedigung wird, entſpricht die geiſtige Thätigkeit,
die freie, ſich ſelbſt regelnde, kunſtgerechte, welche der Muße
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[152/0168] Arbeit und Muße. alſo iſt die neue Bedeutung, welche die Hellenen der Muße gegeben haben, daß ſie nicht mehr das Gegentheil der An¬ ſtrengung iſt, wie bei den Barbaren, welche nach der Arbeit nichts Anderes zu thun wiſſen, als ſich der Völlerei und ſtumpfen Trägheit zu ergeben. Die Griechen erkannten, daß ohne Thätigkeit kein Lebensgenuß vorhanden ſei. Die Muße ſoll alſo nur eine andere Art der Thätigkeit ſein; die Thä¬ tigkeit der Muße hat aber das Eigenthümliche, daß ſie durch keinerlei äußere Bedürfniſſe hervorgerufen iſt, ſondern eine vollkommen freiwillige, ſelbſtgewählte und freudige, deshalb aber keine launenhafte und regelloſe, ſondern eine ſo geord¬ nete Thätigkeit, daß ſich alle geiſtigen und körperlichen Kräfte dabei harmoniſch entfalten, und indem ſie dafür gewiſſe Nor¬ men aufgeſtellt haben, wie ſie ihrem Volkscharakter entſprachen, haben ſie den Genuß der Muße zu einer nationalen Kunſt ausgebildet, welche mehr als alles Andere das Weſen des helleniſchen Volks zum Ausdruck bringt. Als die zehntauſend Griechenherzen beim Anblick des Meers wieder aufathmeten, was war das Erſte, womit die matten Krieger ihre Rettung feierten, und der erſte Genuß der Muße nach unſäglicher Noth? Sie richteten am Geſtade eine Rennbahn ein, um ſich in fröhlichem Wettkampfe wieder als Hellenen zu fühlen. Auf dem unvergleichlichen Bilde helleni¬ ſchen Lebens, wie es die Ficoroniſche Ciſte uns vor Augen ſtellt, ſehen wir einen der Argonauten, der eben dem Schiffs¬ raum entſtiegen iſt, an einem aufgehängten Schlauche Uebungen des Fauſtkampfes anſtellen, nur um der Freude willen, nach langer Haft die Glieder wieder frei bewegen und alle Muskeln anſpannen zu können, während der dickbäuchige Silen, welcher daneben ſitzt, den Thoren auslacht, welcher ſich ohne Noth anſtrengt. Der Gymnaſtik, welche die leiblichen Kräfte zu harmoni¬ ſcher Thätigkeit anſpannt und dadurch eine unverſiegbare Quelle froher Befriedigung wird, entſpricht die geiſtige Thätigkeit, die freie, ſich ſelbſt regelnde, kunſtgerechte, welche der Muße Inhalt und Weihe giebt. Die Mnſik hat, wie Ariſtoteles ſagt,

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/168>, abgerufen am 15.05.2024.