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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Unfreiheit der alten Welt.
setzen, was in einem vorliegenden Falle das Rechte sei. Der
Zaun, welcher das theokratische Volk von allen anderen Völ¬
kern schied, wurde immer durchbrochen; mit dem Götzendienste
des Heidenthums brach auch die Unfreiheit desselben ein, und
so kommt es, daß wir gerade aus der Geschichte Israels jene
Gebräuche kennen lernen, welche bei den umwohnenden Völkern
ersonnen worden waren, um den göttlichen Willen und die
Bestimmung der Sterblichen zu erkennen.

Ein Hauptsitz auch für diesen Zweig menschlicher Erfin¬
dung war die alte Weltstadt Babel. Hier finden wir zuerst
die Anwendung des Looses, die Benutzung der Amulette, das
Beschauen der Leber des Opferthiers; hier gewann die ganze
Schicksalskunde durch ihre Verbindung mit der Wissenschaft
der Chaldäer und namentlich mit der Astronomie zuerst einen
bestimmten Charakter, welchen sie in den verschiedensten Län¬
dern und Zeiten bewahrt hat. Wer kann läugnen, daß es
eine großartige Anschauung war, welche den Menschen darauf
brachte, sein Schicksal an die Gestirne zu knüpfen? Ueber den
verworrenen und rastlos wechselnden Zuständen der Menschen¬
welt wandeln sie in ungetrübter Klarheit und heiliger Ord¬
nung ihre Bahnen, und je gründlicher man an dem wolken¬
losen Himmel Mesopotamiens diese Ordnung verstehen lernte,
um so weniger ist es zu verwundern, daß man nicht nur die
Zeiten des Jahrs und die denselben entsprechenden Geschäfte
des Menschen zu Lande und zu Wasser nach ihnen regelte,
sondern, weiter ging und das ganze Menschenleben unter den
Einfluß der Gestirne stellte. Wo war die Gränze ihrer Wir¬
kungen zu finden, wo löste sich die Kette des geheimnißvollen
Zusammenhangs? Die Weisheit des Morgenlandes war am
wenigsten geneigt, hier Gränzen zu ziehen; sie gab sich mit
Vorliebe der Anschauung eines kosmischen Ganzen hin, aus
welchem kein Glied sich absonderte, und bildete darnach ihr
System der Weltbetrachtung aus. Nach dem Auf- und Nieder¬
gange der Himmelskörper berechnete sie die Perioden, in wel¬
chen sich die Geschicke der Völker vollendeten; in künstliche
Zahlensysteme schloß sie die geschichtlichen Entwickelungen ein

Die Unfreiheit der alten Welt.
ſetzen, was in einem vorliegenden Falle das Rechte ſei. Der
Zaun, welcher das theokratiſche Volk von allen anderen Völ¬
kern ſchied, wurde immer durchbrochen; mit dem Götzendienſte
des Heidenthums brach auch die Unfreiheit deſſelben ein, und
ſo kommt es, daß wir gerade aus der Geſchichte Israels jene
Gebräuche kennen lernen, welche bei den umwohnenden Völkern
erſonnen worden waren, um den göttlichen Willen und die
Beſtimmung der Sterblichen zu erkennen.

Ein Hauptſitz auch für dieſen Zweig menſchlicher Erfin¬
dung war die alte Weltſtadt Babel. Hier finden wir zuerſt
die Anwendung des Looſes, die Benutzung der Amulette, das
Beſchauen der Leber des Opferthiers; hier gewann die ganze
Schickſalskunde durch ihre Verbindung mit der Wiſſenſchaft
der Chaldäer und namentlich mit der Aſtronomie zuerſt einen
beſtimmten Charakter, welchen ſie in den verſchiedenſten Län¬
dern und Zeiten bewahrt hat. Wer kann läugnen, daß es
eine großartige Anſchauung war, welche den Menſchen darauf
brachte, ſein Schickſal an die Geſtirne zu knüpfen? Ueber den
verworrenen und raſtlos wechſelnden Zuſtänden der Menſchen¬
welt wandeln ſie in ungetrübter Klarheit und heiliger Ord¬
nung ihre Bahnen, und je gründlicher man an dem wolken¬
loſen Himmel Meſopotamiens dieſe Ordnung verſtehen lernte,
um ſo weniger iſt es zu verwundern, daß man nicht nur die
Zeiten des Jahrs und die denſelben entſprechenden Geſchäfte
des Menſchen zu Lande und zu Waſſer nach ihnen regelte,
ſondern, weiter ging und das ganze Menſchenleben unter den
Einfluß der Geſtirne ſtellte. Wo war die Gränze ihrer Wir¬
kungen zu finden, wo löſte ſich die Kette des geheimnißvollen
Zuſammenhangs? Die Weisheit des Morgenlandes war am
wenigſten geneigt, hier Gränzen zu ziehen; ſie gab ſich mit
Vorliebe der Anſchauung eines kosmiſchen Ganzen hin, aus
welchem kein Glied ſich abſonderte, und bildete darnach ihr
Syſtem der Weltbetrachtung aus. Nach dem Auf- und Nieder¬
gange der Himmelskörper berechnete ſie die Perioden, in wel¬
chen ſich die Geſchicke der Völker vollendeten; in künſtliche
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[166/0182] Die Unfreiheit der alten Welt. ſetzen, was in einem vorliegenden Falle das Rechte ſei. Der Zaun, welcher das theokratiſche Volk von allen anderen Völ¬ kern ſchied, wurde immer durchbrochen; mit dem Götzendienſte des Heidenthums brach auch die Unfreiheit deſſelben ein, und ſo kommt es, daß wir gerade aus der Geſchichte Israels jene Gebräuche kennen lernen, welche bei den umwohnenden Völkern erſonnen worden waren, um den göttlichen Willen und die Beſtimmung der Sterblichen zu erkennen. Ein Hauptſitz auch für dieſen Zweig menſchlicher Erfin¬ dung war die alte Weltſtadt Babel. Hier finden wir zuerſt die Anwendung des Looſes, die Benutzung der Amulette, das Beſchauen der Leber des Opferthiers; hier gewann die ganze Schickſalskunde durch ihre Verbindung mit der Wiſſenſchaft der Chaldäer und namentlich mit der Aſtronomie zuerſt einen beſtimmten Charakter, welchen ſie in den verſchiedenſten Län¬ dern und Zeiten bewahrt hat. Wer kann läugnen, daß es eine großartige Anſchauung war, welche den Menſchen darauf brachte, ſein Schickſal an die Geſtirne zu knüpfen? Ueber den verworrenen und raſtlos wechſelnden Zuſtänden der Menſchen¬ welt wandeln ſie in ungetrübter Klarheit und heiliger Ord¬ nung ihre Bahnen, und je gründlicher man an dem wolken¬ loſen Himmel Meſopotamiens dieſe Ordnung verſtehen lernte, um ſo weniger iſt es zu verwundern, daß man nicht nur die Zeiten des Jahrs und die denſelben entſprechenden Geſchäfte des Menſchen zu Lande und zu Waſſer nach ihnen regelte, ſondern, weiter ging und das ganze Menſchenleben unter den Einfluß der Geſtirne ſtellte. Wo war die Gränze ihrer Wir¬ kungen zu finden, wo löſte ſich die Kette des geheimnißvollen Zuſammenhangs? Die Weisheit des Morgenlandes war am wenigſten geneigt, hier Gränzen zu ziehen; ſie gab ſich mit Vorliebe der Anſchauung eines kosmiſchen Ganzen hin, aus welchem kein Glied ſich abſonderte, und bildete darnach ihr Syſtem der Weltbetrachtung aus. Nach dem Auf- und Nieder¬ gange der Himmelskörper berechnete ſie die Perioden, in wel¬ chen ſich die Geſchicke der Völker vollendeten; in künſtliche Zahlenſyſteme ſchloß ſie die geſchichtlichen Entwickelungen ein

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/182>, abgerufen am 15.05.2024.