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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Unfreiheit der alten Welt.
und bestimmte nach himmlischer Constellation das Erdenleben
jedes einzelnen Menschen.

Die Griechen lernten diese Lehre in Aegypten kennen und
hielten sie für eine Erfindung dieses Landes. Sie fanden dort
jeden Monat, jeden Tag und jede Tagesstunde einer bestimmten
Gottheit zugetheilt, und nach der Stunde, in welche eines
Menschen Geburt fiel, glaubte man, sei sein Leben, sein Cha¬
rakter, sein Ende im Voraus entschieden. Mit peinlicher Sorg¬
falt wurde jedes Zeichen aufgeschrieben und der Erfolg des¬
selben vermerkt, um auf diese Weise ein immer vollständigeres
Lehrsystem auszubilden.

Diese Lehren und Künste gingen von einem Volke zum
andern; sie erfüllten in höheren und niederen Formen das
ganze Morgenland, wo sie aller Verbote des Koran zum
Trotze bis auf den heutigen Tag einheimisch geblieben sind.
Sie blieben aber nicht auf das Morgenland beschränkt, son¬
dern wurden mit den andern Künsten, Wissenschaften und
Gottesdiensten zu den Völkern gebracht, welche am westlichen
Meere wohnten.

Für diese Vermittelung waren nun von besonderer Wich¬
tigkeit die Gränzgebiete zwischen beiden Hälften der alten
Welt, die Küstenländer Kleinasiens, das halb dem einen, halb
dem andern Continente angehört, namentlich die südlichen
Küstenländer, welche den Wohnsitzen der semitischen Völker am
nächsten waren und selbst semitische Bevölkerung aufnahmen,
die Länder am Südabhange des Taurus, Cilicien, Pam¬
phylien, Lycien, Karien, so wie die Inselländer Cypern und
Kreta. Das sind die Gegenden, wo die beiden für alle Ge¬
schichtsentwickelung wichtigsten Völkergeschlechter zusammen¬
trafen, wo das schwärmerische Naturgefühl und religiöse Ge¬
müthsleben des einen mit dem klaren, nach Maß und Ord¬
nung ringenden Geiste des andern sich durchdrang und aus
diesem anregenden Verkehre zwischen semitischer und arischer
Volksthümlichkeit ein reiches Culturleben sich entwickelte.

Die Griechen wußten, was sie diesen Gegenden verdankten;
sie kannten sie als die Heimath wichtiger Gottesdienste, als

Die Unfreiheit der alten Welt.
und beſtimmte nach himmliſcher Conſtellation das Erdenleben
jedes einzelnen Menſchen.

Die Griechen lernten dieſe Lehre in Aegypten kennen und
hielten ſie für eine Erfindung dieſes Landes. Sie fanden dort
jeden Monat, jeden Tag und jede Tagesſtunde einer beſtimmten
Gottheit zugetheilt, und nach der Stunde, in welche eines
Menſchen Geburt fiel, glaubte man, ſei ſein Leben, ſein Cha¬
rakter, ſein Ende im Voraus entſchieden. Mit peinlicher Sorg¬
falt wurde jedes Zeichen aufgeſchrieben und der Erfolg des¬
ſelben vermerkt, um auf dieſe Weiſe ein immer vollſtändigeres
Lehrſyſtem auszubilden.

Dieſe Lehren und Künſte gingen von einem Volke zum
andern; ſie erfüllten in höheren und niederen Formen das
ganze Morgenland, wo ſie aller Verbote des Koran zum
Trotze bis auf den heutigen Tag einheimiſch geblieben ſind.
Sie blieben aber nicht auf das Morgenland beſchränkt, ſon¬
dern wurden mit den andern Künſten, Wiſſenſchaften und
Gottesdienſten zu den Völkern gebracht, welche am weſtlichen
Meere wohnten.

Für dieſe Vermittelung waren nun von beſonderer Wich¬
tigkeit die Gränzgebiete zwiſchen beiden Hälften der alten
Welt, die Küſtenländer Kleinaſiens, das halb dem einen, halb
dem andern Continente angehört, namentlich die ſüdlichen
Küſtenländer, welche den Wohnſitzen der ſemitiſchen Völker am
nächſten waren und ſelbſt ſemitiſche Bevölkerung aufnahmen,
die Länder am Südabhange des Taurus, Cilicien, Pam¬
phylien, Lycien, Karien, ſo wie die Inſelländer Cypern und
Kreta. Das ſind die Gegenden, wo die beiden für alle Ge¬
ſchichtsentwickelung wichtigſten Völkergeſchlechter zuſammen¬
trafen, wo das ſchwärmeriſche Naturgefühl und religiöſe Ge¬
müthsleben des einen mit dem klaren, nach Maß und Ord¬
nung ringenden Geiſte des andern ſich durchdrang und aus
dieſem anregenden Verkehre zwiſchen ſemitiſcher und ariſcher
Volksthümlichkeit ein reiches Culturleben ſich entwickelte.

Die Griechen wußten, was ſie dieſen Gegenden verdankten;
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[167/0183] Die Unfreiheit der alten Welt. und beſtimmte nach himmliſcher Conſtellation das Erdenleben jedes einzelnen Menſchen. Die Griechen lernten dieſe Lehre in Aegypten kennen und hielten ſie für eine Erfindung dieſes Landes. Sie fanden dort jeden Monat, jeden Tag und jede Tagesſtunde einer beſtimmten Gottheit zugetheilt, und nach der Stunde, in welche eines Menſchen Geburt fiel, glaubte man, ſei ſein Leben, ſein Cha¬ rakter, ſein Ende im Voraus entſchieden. Mit peinlicher Sorg¬ falt wurde jedes Zeichen aufgeſchrieben und der Erfolg des¬ ſelben vermerkt, um auf dieſe Weiſe ein immer vollſtändigeres Lehrſyſtem auszubilden. Dieſe Lehren und Künſte gingen von einem Volke zum andern; ſie erfüllten in höheren und niederen Formen das ganze Morgenland, wo ſie aller Verbote des Koran zum Trotze bis auf den heutigen Tag einheimiſch geblieben ſind. Sie blieben aber nicht auf das Morgenland beſchränkt, ſon¬ dern wurden mit den andern Künſten, Wiſſenſchaften und Gottesdienſten zu den Völkern gebracht, welche am weſtlichen Meere wohnten. Für dieſe Vermittelung waren nun von beſonderer Wich¬ tigkeit die Gränzgebiete zwiſchen beiden Hälften der alten Welt, die Küſtenländer Kleinaſiens, das halb dem einen, halb dem andern Continente angehört, namentlich die ſüdlichen Küſtenländer, welche den Wohnſitzen der ſemitiſchen Völker am nächſten waren und ſelbſt ſemitiſche Bevölkerung aufnahmen, die Länder am Südabhange des Taurus, Cilicien, Pam¬ phylien, Lycien, Karien, ſo wie die Inſelländer Cypern und Kreta. Das ſind die Gegenden, wo die beiden für alle Ge¬ ſchichtsentwickelung wichtigſten Völkergeſchlechter zuſammen¬ trafen, wo das ſchwärmeriſche Naturgefühl und religiöſe Ge¬ müthsleben des einen mit dem klaren, nach Maß und Ord¬ nung ringenden Geiſte des andern ſich durchdrang und aus dieſem anregenden Verkehre zwiſchen ſemitiſcher und ariſcher Volksthümlichkeit ein reiches Culturleben ſich entwickelte. Die Griechen wußten, was ſie dieſen Gegenden verdankten; ſie kannten ſie als die Heimath wichtiger Gottesdienſte, als

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/183>, abgerufen am 15.05.2024.