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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.

Die erste Seite dieser Beweisführung zeigt besonders deutlich,
wie innerhalb dieser Metaphysik für den Willen, welcher von
innen anfängt, keine Stelle ist, ja daß diejenige Transscendenz, deren
Wesen ist, von der Natur auf den Willen zurückzugehen, für
sie noch nicht da ist. Aristoteles also lehrt Folgendes. -- Die Be-
wegung
ist ewig, ein zeitlicher Anfang derselben kann nicht ge-
dacht werden. Das System der Bewegungen im Kosmos kann nun
nicht so vorgestellt werden, daß jede Bewegung rückwärts eine weitere
Bewegungsursache habe und diese Kette der Bewegungsursachen
in das Unendliche verlaufe; denn so kämen wir nie zu einer
wahrhaft wirkenden, ersten Ursache, ohne welche doch schließlich
alle Wirkungen unerklärt bleiben würden. Sonach muß ein letzter
Haltpunkt angenommen werden. -- Und zwar muß diese erste
Ursache als unbewegt bestimmt werden. Wenn sie sich selber
bewegt, so muß in ihr das, was bewegt wird, von dem, was be-
wegt und welchem sonach Bewegtwerden nicht zukommt, unter-
schieden werden. Da die Bewegung kontinuirlich ist, kann sie nicht
auf einen veränderlichen Willen nach Art der Willen in den be-
seelten Wesen zurückgeführt werden, sondern muß in Eine erste
unbewegte Ursache zurückgehn. So gelangen wir zu dem unbe-
wegten Beweger als der reinen Aktivität oder dem actus purus
sowie zu der metaphysischen Konstruktion der ersten Bewegung als
Kreisbewegung. 1)

Die andere Seite des Beweises benutzt die Betrachtung der
gedankenmäßigen Formen, welche sich in den Bewegungen
des Kosmos verwirklichen. Bewegung erscheint in diesem Zusammen-
hang als ein Bestimmtwerden der Materie durch die Form. Da
die Bewegung in der Gestirnwelt unwandelbar sich selber gleich
und in sich zurückkehrend ist, so muß die Energie, welche sie
hervorbringt, als unkörperliche Form oder reine Energie gedacht
werden. In dieser fällt der letzte Zweck mit der bewegenden Kraft
der Welt zusammen 2). "Diesen obersten Zweck zu erreichen ist

1) Diese Argumentation ist mit meisterhafter Strenge im achten Buche
der Physik durchgeführt, welches so in die Metaphysik überführt.
2) Metaph. XII, 7, populär und ohne Benutzung der metaphysischen
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.

Die erſte Seite dieſer Beweisführung zeigt beſonders deutlich,
wie innerhalb dieſer Metaphyſik für den Willen, welcher von
innen anfängt, keine Stelle iſt, ja daß diejenige Transſcendenz, deren
Weſen iſt, von der Natur auf den Willen zurückzugehen, für
ſie noch nicht da iſt. Ariſtoteles alſo lehrt Folgendes. — Die Be-
wegung
iſt ewig, ein zeitlicher Anfang derſelben kann nicht ge-
dacht werden. Das Syſtem der Bewegungen im Kosmos kann nun
nicht ſo vorgeſtellt werden, daß jede Bewegung rückwärts eine weitere
Bewegungsurſache habe und dieſe Kette der Bewegungsurſachen
in das Unendliche verlaufe; denn ſo kämen wir nie zu einer
wahrhaft wirkenden, erſten Urſache, ohne welche doch ſchließlich
alle Wirkungen unerklärt bleiben würden. Sonach muß ein letzter
Haltpunkt angenommen werden. — Und zwar muß dieſe erſte
Urſache als unbewegt beſtimmt werden. Wenn ſie ſich ſelber
bewegt, ſo muß in ihr das, was bewegt wird, von dem, was be-
wegt und welchem ſonach Bewegtwerden nicht zukommt, unter-
ſchieden werden. Da die Bewegung kontinuirlich iſt, kann ſie nicht
auf einen veränderlichen Willen nach Art der Willen in den be-
ſeelten Weſen zurückgeführt werden, ſondern muß in Eine erſte
unbewegte Urſache zurückgehn. So gelangen wir zu dem unbe-
wegten Beweger als der reinen Aktivität oder dem actus purus
ſowie zu der metaphyſiſchen Konſtruktion der erſten Bewegung als
Kreisbewegung. 1)

Die andere Seite des Beweiſes benutzt die Betrachtung der
gedankenmäßigen Formen, welche ſich in den Bewegungen
des Kosmos verwirklichen. Bewegung erſcheint in dieſem Zuſammen-
hang als ein Beſtimmtwerden der Materie durch die Form. Da
die Bewegung in der Geſtirnwelt unwandelbar ſich ſelber gleich
und in ſich zurückkehrend iſt, ſo muß die Energie, welche ſie
hervorbringt, als unkörperliche Form oder reine Energie gedacht
werden. In dieſer fällt der letzte Zweck mit der bewegenden Kraft
der Welt zuſammen 2). „Dieſen oberſten Zweck zu erreichen iſt

1) Dieſe Argumentation iſt mit meiſterhafter Strenge im achten Buche
der Phyſik durchgeführt, welches ſo in die Metaphyſik überführt.
2) Metaph. XII, 7, populär und ohne Benutzung der metaphyſiſchen
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[268/0291] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die erſte Seite dieſer Beweisführung zeigt beſonders deutlich, wie innerhalb dieſer Metaphyſik für den Willen, welcher von innen anfängt, keine Stelle iſt, ja daß diejenige Transſcendenz, deren Weſen iſt, von der Natur auf den Willen zurückzugehen, für ſie noch nicht da iſt. Ariſtoteles alſo lehrt Folgendes. — Die Be- wegung iſt ewig, ein zeitlicher Anfang derſelben kann nicht ge- dacht werden. Das Syſtem der Bewegungen im Kosmos kann nun nicht ſo vorgeſtellt werden, daß jede Bewegung rückwärts eine weitere Bewegungsurſache habe und dieſe Kette der Bewegungsurſachen in das Unendliche verlaufe; denn ſo kämen wir nie zu einer wahrhaft wirkenden, erſten Urſache, ohne welche doch ſchließlich alle Wirkungen unerklärt bleiben würden. Sonach muß ein letzter Haltpunkt angenommen werden. — Und zwar muß dieſe erſte Urſache als unbewegt beſtimmt werden. Wenn ſie ſich ſelber bewegt, ſo muß in ihr das, was bewegt wird, von dem, was be- wegt und welchem ſonach Bewegtwerden nicht zukommt, unter- ſchieden werden. Da die Bewegung kontinuirlich iſt, kann ſie nicht auf einen veränderlichen Willen nach Art der Willen in den be- ſeelten Weſen zurückgeführt werden, ſondern muß in Eine erſte unbewegte Urſache zurückgehn. So gelangen wir zu dem unbe- wegten Beweger als der reinen Aktivität oder dem actus purus ſowie zu der metaphyſiſchen Konſtruktion der erſten Bewegung als Kreisbewegung. 1) Die andere Seite des Beweiſes benutzt die Betrachtung der gedankenmäßigen Formen, welche ſich in den Bewegungen des Kosmos verwirklichen. Bewegung erſcheint in dieſem Zuſammen- hang als ein Beſtimmtwerden der Materie durch die Form. Da die Bewegung in der Geſtirnwelt unwandelbar ſich ſelber gleich und in ſich zurückkehrend iſt, ſo muß die Energie, welche ſie hervorbringt, als unkörperliche Form oder reine Energie gedacht werden. In dieſer fällt der letzte Zweck mit der bewegenden Kraft der Welt zuſammen 2). „Dieſen oberſten Zweck zu erreichen iſt 1) Dieſe Argumentation iſt mit meiſterhafter Strenge im achten Buche der Phyſik durchgeführt, welches ſo in die Metaphyſik überführt. 2) Metaph. XII, 7, populär und ohne Benutzung der metaphyſiſchen

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/291>, abgerufen am 15.05.2024.