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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
wurde, das die Skeptiker von Pyrrho bis Sextus Empiricus
nicht zu gewahren vermocht haben. Ihr Endurtheil über die ganze
Position des Metaphysikers ist in Geltung geblieben, sie haben die
Metaphysik zersetzt: aber die Wahrheit ist eben nicht Metaphysik.

Also wir ergänzen durch unsere Einsicht, um die Skeptiker
von Grund aus zu verstehen. Sie sprechen von einem Wahr-
nehmungszustand, den der Mensch erleidet 1), und unterscheiden
diesen vom Erkennen 2). Aber keine Ahnung ist in ihnen, daß das
Innewerden eines solchen Zustandes, welches sie nicht bestreiten,
eben selber ein Wissen und zwar das sicherste Wissen ist, von
welchem jede Erkenntniß ihre Gewißheit zu Lehen tragen muß. Viel-
mehr suchen sie gemäß dem metaphysischen Standpunkt die Wahrheit
ausschließlich in dem, was als objektive Grundlage dem in der
äußeren Wahrnehmung gegebenen Phänomen vom Denken unterge-
legt wird 3). Sie erkennen daher zwar das Sehen, das Denken als
einen zweifellosen Thatbestand an; aber derselbe schließt für sie
nicht ein werthvolles Wissen, nämlich von den Thatsachen des Be-
wußtseins, in sich. In Folge davon entwickeln sie nicht klar, daß
die Außenwelt nur Phänomen für das Bewußtsein sei, und gelangen
sonach nicht zu einer folgerichtigen Anschauung der Außenwelt in
diesem Sinne 4), sondern sie fragen nur, ob der im Bewußtsein
gegebene Sinneseindruck als ein Zeichen von der objektiven Grund-
lage solcher Phänomene benutzt werden kann. Und sie leugnen das
mit Recht. Sie verneinen richtig jede Art von Erkenntniß dieser
objektiven Unterlage der Phänomene: des Kant'schen Dinges an
sich 5). Also nur darin irren sie, daß sie auf Grund hiervon die
Möglichkeit des Wissens bestreiten.


1) Diogenes IX, 103: peri men on os anthropoi paskhomen, omologoumen.
2) ebds.
3) Sextus Empir. hypotyp. I, 19 f.
4) ebds. sowie Diogenes a. a. O.
5) kai gar oti emera esti kai oti zomen kai alla polla ton
en to bio phainomenon diaginoskomen; peri don oi dogmatikoi diabe-
baiountai to logo, phamenoi kateilephthai, peri touton epekhomen os
adelon, mona de ta pathe ginoskomen. Diogenes IX, 103.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
wurde, das die Skeptiker von Pyrrho bis Sextus Empiricus
nicht zu gewahren vermocht haben. Ihr Endurtheil über die ganze
Poſition des Metaphyſikers iſt in Geltung geblieben, ſie haben die
Metaphyſik zerſetzt: aber die Wahrheit iſt eben nicht Metaphyſik.

Alſo wir ergänzen durch unſere Einſicht, um die Skeptiker
von Grund aus zu verſtehen. Sie ſprechen von einem Wahr-
nehmungszuſtand, den der Menſch erleidet 1), und unterſcheiden
dieſen vom Erkennen 2). Aber keine Ahnung iſt in ihnen, daß das
Innewerden eines ſolchen Zuſtandes, welches ſie nicht beſtreiten,
eben ſelber ein Wiſſen und zwar das ſicherſte Wiſſen iſt, von
welchem jede Erkenntniß ihre Gewißheit zu Lehen tragen muß. Viel-
mehr ſuchen ſie gemäß dem metaphyſiſchen Standpunkt die Wahrheit
ausſchließlich in dem, was als objektive Grundlage dem in der
äußeren Wahrnehmung gegebenen Phänomen vom Denken unterge-
legt wird 3). Sie erkennen daher zwar das Sehen, das Denken als
einen zweifelloſen Thatbeſtand an; aber derſelbe ſchließt für ſie
nicht ein werthvolles Wiſſen, nämlich von den Thatſachen des Be-
wußtſeins, in ſich. In Folge davon entwickeln ſie nicht klar, daß
die Außenwelt nur Phänomen für das Bewußtſein ſei, und gelangen
ſonach nicht zu einer folgerichtigen Anſchauung der Außenwelt in
dieſem Sinne 4), ſondern ſie fragen nur, ob der im Bewußtſein
gegebene Sinneseindruck als ein Zeichen von der objektiven Grund-
lage ſolcher Phänomene benutzt werden kann. Und ſie leugnen das
mit Recht. Sie verneinen richtig jede Art von Erkenntniß dieſer
objektiven Unterlage der Phänomene: des Kant’ſchen Dinges an
ſich 5). Alſo nur darin irren ſie, daß ſie auf Grund hiervon die
Möglichkeit des Wiſſens beſtreiten.


1) Diogenes IX, 103: πεϱὶ μὲν ὧν ὡς ἄνϑϱωποι πάσχομεν, ὁμολογοῦμεν.
2) ebdſ.
3) Sextus Empir. hypotyp. I, 19 f.
4) ebdſ. ſowie Diogenes a. a. O.
5) καὶ γὰϱ ὅτι ἡμέϱα ἐστὶ καὶ ὅτι ζῶμεν καὶ ἄλλα πολλὰ τῶν
ἐν τῷ βίῳ φαινομένων διαγινώσκομεν· πεϱὶ δ̕ὧν οἱ δογματικοὶ διαβε-
βαιοῦνται τῷ λόγῳ, φάμενοι κατειλῆφϑαι, πεϱὶ τούτων ἐπέχομεν ὡς
ἀδήλων, μόνα δὲ τὰ πάϑη γινώσκομεν. Diogenes IX, 103.
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[298/0321] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. wurde, das die Skeptiker von Pyrrho bis Sextus Empiricus nicht zu gewahren vermocht haben. Ihr Endurtheil über die ganze Poſition des Metaphyſikers iſt in Geltung geblieben, ſie haben die Metaphyſik zerſetzt: aber die Wahrheit iſt eben nicht Metaphyſik. Alſo wir ergänzen durch unſere Einſicht, um die Skeptiker von Grund aus zu verſtehen. Sie ſprechen von einem Wahr- nehmungszuſtand, den der Menſch erleidet 1), und unterſcheiden dieſen vom Erkennen 2). Aber keine Ahnung iſt in ihnen, daß das Innewerden eines ſolchen Zuſtandes, welches ſie nicht beſtreiten, eben ſelber ein Wiſſen und zwar das ſicherſte Wiſſen iſt, von welchem jede Erkenntniß ihre Gewißheit zu Lehen tragen muß. Viel- mehr ſuchen ſie gemäß dem metaphyſiſchen Standpunkt die Wahrheit ausſchließlich in dem, was als objektive Grundlage dem in der äußeren Wahrnehmung gegebenen Phänomen vom Denken unterge- legt wird 3). Sie erkennen daher zwar das Sehen, das Denken als einen zweifelloſen Thatbeſtand an; aber derſelbe ſchließt für ſie nicht ein werthvolles Wiſſen, nämlich von den Thatſachen des Be- wußtſeins, in ſich. In Folge davon entwickeln ſie nicht klar, daß die Außenwelt nur Phänomen für das Bewußtſein ſei, und gelangen ſonach nicht zu einer folgerichtigen Anſchauung der Außenwelt in dieſem Sinne 4), ſondern ſie fragen nur, ob der im Bewußtſein gegebene Sinneseindruck als ein Zeichen von der objektiven Grund- lage ſolcher Phänomene benutzt werden kann. Und ſie leugnen das mit Recht. Sie verneinen richtig jede Art von Erkenntniß dieſer objektiven Unterlage der Phänomene: des Kant’ſchen Dinges an ſich 5). Alſo nur darin irren ſie, daß ſie auf Grund hiervon die Möglichkeit des Wiſſens beſtreiten. 1) Diogenes IX, 103: πεϱὶ μὲν ὧν ὡς ἄνϑϱωποι πάσχομεν, ὁμολογοῦμεν. 2) ebdſ. 3) Sextus Empir. hypotyp. I, 19 f. 4) ebdſ. ſowie Diogenes a. a. O. 5) καὶ γὰϱ ὅτι ἡμέϱα ἐστὶ καὶ ὅτι ζῶμεν καὶ ἄλλα πολλὰ τῶν ἐν τῷ βίῳ φαινομένων διαγινώσκομεν· πεϱὶ δ̕ὧν οἱ δογματικοὶ διαβε- βαιοῦνται τῷ λόγῳ, φάμενοι κατειλῆφϑαι, πεϱὶ τούτων ἐπέχομεν ὡς ἀδήλων, μόνα δὲ τὰ πάϑη γινώσκομεν. Diogenes IX, 103.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/321>, abgerufen am 14.10.2024.