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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
hang bedingt sind, in dem sie auftreten. Hieraus ergiebt sich das
allgemeine Gesetz der Relativität, unter welchem unsere
Erfahrungen über die äußere Wirklichkeit stehen. Eine
Geschmacksempfindung ist augenscheinlich durch diejenige bedingt,
welche ihr voraufging, das Bild eines räumlichen Objektes ist
von der Stellung des Sehenden im Raum abhängig. Daher ent-
springt die Aufgabe, diese relativen Data durch einen Zusammen-
hang zu bestimmen, der in sich gegründet und fest ist. Für die
anhebende Wissenschaft war diese Aufgabe gleichsam eingehüllt in
die von Orientirung in Raum und Zeit sowie von Aufsuchung
einer ersten Ursache und verwoben mit den ethisch-religiösen An-
trieben. So befaßte der Ausdruck Prinzip (arkhe) die erste Ur-
sache und den Erklärungsgrund der Erscheinungen ungeschieden in
sich. Geht man von dem Gegebenen zu seinen Ursachen, so kann
ein solcher Rückgang seine Sicherheit nur aus der Denknothwendig-
keit des Schlußverfahrens empfangen, daher war mit der wissen-
schaftlichen Aufsuchung von Ursachen irgend ein Grad von logischem
Bewußtsein des Grundes immer verbunden. Erst der Zweifel der
Sophisten hatte ein logisches Bewußtsein der Methode, Ursachen
oder Substanzen zu finden, zur Folge, und diese Methode wurde
nun als Rückgang von dem Gegebenen zu den denknothwendigen
Bedingungen desselben bestimmt. Da sonach die Erkenntniß von
Ursachen an den Schluß und die in ihm liegende Denknoth-
wendigkeit gebunden ist, so setzt diese Erkenntniß voraus, daß im
Naturzusammenhang eine logische Nothwendigkeit obwalte, ohne
welche das Erkennen keinen Angriffspunkt hätte. Demnach ent-
spricht dem unbefangenen Glauben an die Erkenntniß der Ursachen,
welcher aller Metaphysik zu Grunde liegt, ein Theorem von
dem logischen Zusammenhang in der Natur. Die Ent-
wicklung dieses Theorems kann, so lange die logische Form zwar
in einzelne Formbestandtheile als ihre Komponenten aufgelöst wird,
aber nicht durch eine wahrhaft analytische Untersuchung hinter diese
zurückverfolgt wird, nur in der Darstellung einer äußeren Be-
ziehung zwischen der Form des logischen Denkens und der des
Naturzusammenhangs bestehen.


Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
hang bedingt ſind, in dem ſie auftreten. Hieraus ergiebt ſich das
allgemeine Geſetz der Relativität, unter welchem unſere
Erfahrungen über die äußere Wirklichkeit ſtehen. Eine
Geſchmacksempfindung iſt augenſcheinlich durch diejenige bedingt,
welche ihr voraufging, das Bild eines räumlichen Objektes iſt
von der Stellung des Sehenden im Raum abhängig. Daher ent-
ſpringt die Aufgabe, dieſe relativen Data durch einen Zuſammen-
hang zu beſtimmen, der in ſich gegründet und feſt iſt. Für die
anhebende Wiſſenſchaft war dieſe Aufgabe gleichſam eingehüllt in
die von Orientirung in Raum und Zeit ſowie von Aufſuchung
einer erſten Urſache und verwoben mit den ethiſch-religiöſen An-
trieben. So befaßte der Ausdruck Prinzip (ἀϱχή) die erſte Ur-
ſache und den Erklärungsgrund der Erſcheinungen ungeſchieden in
ſich. Geht man von dem Gegebenen zu ſeinen Urſachen, ſo kann
ein ſolcher Rückgang ſeine Sicherheit nur aus der Denknothwendig-
keit des Schlußverfahrens empfangen, daher war mit der wiſſen-
ſchaftlichen Aufſuchung von Urſachen irgend ein Grad von logiſchem
Bewußtſein des Grundes immer verbunden. Erſt der Zweifel der
Sophiſten hatte ein logiſches Bewußtſein der Methode, Urſachen
oder Subſtanzen zu finden, zur Folge, und dieſe Methode wurde
nun als Rückgang von dem Gegebenen zu den denknothwendigen
Bedingungen deſſelben beſtimmt. Da ſonach die Erkenntniß von
Urſachen an den Schluß und die in ihm liegende Denknoth-
wendigkeit gebunden iſt, ſo ſetzt dieſe Erkenntniß voraus, daß im
Naturzuſammenhang eine logiſche Nothwendigkeit obwalte, ohne
welche das Erkennen keinen Angriffspunkt hätte. Demnach ent-
ſpricht dem unbefangenen Glauben an die Erkenntniß der Urſachen,
welcher aller Metaphyſik zu Grunde liegt, ein Theorem von
dem logiſchen Zuſammenhang in der Natur. Die Ent-
wicklung dieſes Theorems kann, ſo lange die logiſche Form zwar
in einzelne Formbeſtandtheile als ihre Komponenten aufgelöſt wird,
aber nicht durch eine wahrhaft analytiſche Unterſuchung hinter dieſe
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ziehung zwiſchen der Form des logiſchen Denkens und der des
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[492/0515] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. hang bedingt ſind, in dem ſie auftreten. Hieraus ergiebt ſich das allgemeine Geſetz der Relativität, unter welchem unſere Erfahrungen über die äußere Wirklichkeit ſtehen. Eine Geſchmacksempfindung iſt augenſcheinlich durch diejenige bedingt, welche ihr voraufging, das Bild eines räumlichen Objektes iſt von der Stellung des Sehenden im Raum abhängig. Daher ent- ſpringt die Aufgabe, dieſe relativen Data durch einen Zuſammen- hang zu beſtimmen, der in ſich gegründet und feſt iſt. Für die anhebende Wiſſenſchaft war dieſe Aufgabe gleichſam eingehüllt in die von Orientirung in Raum und Zeit ſowie von Aufſuchung einer erſten Urſache und verwoben mit den ethiſch-religiöſen An- trieben. So befaßte der Ausdruck Prinzip (ἀϱχή) die erſte Ur- ſache und den Erklärungsgrund der Erſcheinungen ungeſchieden in ſich. Geht man von dem Gegebenen zu ſeinen Urſachen, ſo kann ein ſolcher Rückgang ſeine Sicherheit nur aus der Denknothwendig- keit des Schlußverfahrens empfangen, daher war mit der wiſſen- ſchaftlichen Aufſuchung von Urſachen irgend ein Grad von logiſchem Bewußtſein des Grundes immer verbunden. Erſt der Zweifel der Sophiſten hatte ein logiſches Bewußtſein der Methode, Urſachen oder Subſtanzen zu finden, zur Folge, und dieſe Methode wurde nun als Rückgang von dem Gegebenen zu den denknothwendigen Bedingungen deſſelben beſtimmt. Da ſonach die Erkenntniß von Urſachen an den Schluß und die in ihm liegende Denknoth- wendigkeit gebunden iſt, ſo ſetzt dieſe Erkenntniß voraus, daß im Naturzuſammenhang eine logiſche Nothwendigkeit obwalte, ohne welche das Erkennen keinen Angriffspunkt hätte. Demnach ent- ſpricht dem unbefangenen Glauben an die Erkenntniß der Urſachen, welcher aller Metaphyſik zu Grunde liegt, ein Theorem von dem logiſchen Zuſammenhang in der Natur. Die Ent- wicklung dieſes Theorems kann, ſo lange die logiſche Form zwar in einzelne Formbeſtandtheile als ihre Komponenten aufgelöſt wird, aber nicht durch eine wahrhaft analytiſche Unterſuchung hinter dieſe zurückverfolgt wird, nur in der Darſtellung einer äußeren Be- ziehung zwiſchen der Form des logiſchen Denkens und der des Naturzuſammenhangs beſtehen.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/515>, abgerufen am 29.04.2024.