Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
die Interpretation der Begriffe kein Streit: B kann unter dem
Begriffe von Gleichheit nur dasselbe als A denken. Die Begriffe
von Kausalität und Substanz sind augenscheinlich nicht von solcher
Art. Sie haben einen dunklen Kern einer nicht in sinnliche oder Ver-
standeselemente auflösbaren Thatsächlichkeit. Sie können nicht wie
Zahlbegriffe in ihre Elemente eindeutig zerlegt werden; hat ihre
Analysis doch zu endlosem Streit geführt. Oder wie kann etwa
eine bleibende Unterlage, an welcher Eigenschaften und Thätigkeiten
wechseln, ohne daß dieses Thätige selber in sich Veränderungen
erführe, vorgestellt, wie für den Verstand faßbar gemacht werden?

Wären Substanz und Kausalität solche Formen der Intelli-
genz a priori, sonach mit der Intelligenz selber gegeben, alsdann
könnten keine Bestandtheile dieser Denkformen aufgegeben und mit
anderen vertauscht werden. In Wirklichkeit nahm das mythische
Vorstellen, wie wir sahen, in den Ursachen eine freie Lebendig-
keit und seelische Kraft an, welche in unserem Begriff einer Ursache
im Naturlauf nicht mehr anzutreffen ist. Die Elemente, welche
ursprünglich in der Ursache vorgestellt wurden, haben eine bestän-
dige Minderung erfahren, und andere sind in einem Vorgang von
Anpassung der ursprünglichen Vorstellung an die Außenwelt in
ihre Stelle eingetreten. Diese Begriffe haben eine Entwicklungs-
geschichte.

Der Grund selber, aus welchem die Vorstellungen von Sub-
stanz und Kausalität sich einer eindeutigen klaren Bestimmung nicht
fähig erweisen, kann innerhalb dieser phänomenologischen Betrach-
tung der Metaphysik nur als eine Möglichkeit vorgelegt werden,
die dann die Erkenntnißtheorie zu erweisen hat. In der Tota-
lität unserer Gemüthskräfte, in dem erfüllten lebendigen Selbst-
bewußtsein, welches das Wirken eines Anderen erfährt, liegt der
lebendige Ursprung dieser beiden Begriffe. Nicht eine nachkommende
Uebertragung aus dem Selbstbewußtsein auf die an sich leblose
Außenwelt, durch welche diese letztere in mythischem Vorstellen Leben
empfinge, braucht hierbei angenommen zu werden. Das Andere
kann im Selbstbewußtsein so ursprünglich wie das Selbst als
lebendige wirksame Realität gegeben sein. Was aber in der Tota-

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
die Interpretation der Begriffe kein Streit: B kann unter dem
Begriffe von Gleichheit nur daſſelbe als A denken. Die Begriffe
von Kauſalität und Subſtanz ſind augenſcheinlich nicht von ſolcher
Art. Sie haben einen dunklen Kern einer nicht in ſinnliche oder Ver-
ſtandeselemente auflösbaren Thatſächlichkeit. Sie können nicht wie
Zahlbegriffe in ihre Elemente eindeutig zerlegt werden; hat ihre
Analyſis doch zu endloſem Streit geführt. Oder wie kann etwa
eine bleibende Unterlage, an welcher Eigenſchaften und Thätigkeiten
wechſeln, ohne daß dieſes Thätige ſelber in ſich Veränderungen
erführe, vorgeſtellt, wie für den Verſtand faßbar gemacht werden?

Wären Subſtanz und Kauſalität ſolche Formen der Intelli-
genz a priori, ſonach mit der Intelligenz ſelber gegeben, alsdann
könnten keine Beſtandtheile dieſer Denkformen aufgegeben und mit
anderen vertauſcht werden. In Wirklichkeit nahm das mythiſche
Vorſtellen, wie wir ſahen, in den Urſachen eine freie Lebendig-
keit und ſeeliſche Kraft an, welche in unſerem Begriff einer Urſache
im Naturlauf nicht mehr anzutreffen iſt. Die Elemente, welche
urſprünglich in der Urſache vorgeſtellt wurden, haben eine beſtän-
dige Minderung erfahren, und andere ſind in einem Vorgang von
Anpaſſung der urſprünglichen Vorſtellung an die Außenwelt in
ihre Stelle eingetreten. Dieſe Begriffe haben eine Entwicklungs-
geſchichte.

Der Grund ſelber, aus welchem die Vorſtellungen von Sub-
ſtanz und Kauſalität ſich einer eindeutigen klaren Beſtimmung nicht
fähig erweiſen, kann innerhalb dieſer phänomenologiſchen Betrach-
tung der Metaphyſik nur als eine Möglichkeit vorgelegt werden,
die dann die Erkenntnißtheorie zu erweiſen hat. In der Tota-
lität unſerer Gemüthskräfte, in dem erfüllten lebendigen Selbſt-
bewußtſein, welches das Wirken eines Anderen erfährt, liegt der
lebendige Urſprung dieſer beiden Begriffe. Nicht eine nachkommende
Uebertragung aus dem Selbſtbewußtſein auf die an ſich lebloſe
Außenwelt, durch welche dieſe letztere in mythiſchem Vorſtellen Leben
empfinge, braucht hierbei angenommen zu werden. Das Andere
kann im Selbſtbewußtſein ſo urſprünglich wie das Selbſt als
lebendige wirkſame Realität gegeben ſein. Was aber in der Tota-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0533" n="510"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Vierter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
die Interpretation der Begriffe kein Streit: B kann unter dem<lb/>
Begriffe von Gleichheit nur da&#x017F;&#x017F;elbe als A denken. Die Begriffe<lb/>
von Kau&#x017F;alität und Sub&#x017F;tanz &#x017F;ind augen&#x017F;cheinlich nicht von &#x017F;olcher<lb/>
Art. Sie haben einen dunklen Kern einer nicht in &#x017F;innliche oder Ver-<lb/>
&#x017F;tandeselemente auflösbaren That&#x017F;ächlichkeit. Sie können nicht wie<lb/>
Zahlbegriffe in ihre Elemente eindeutig zerlegt werden; hat ihre<lb/>
Analy&#x017F;is doch zu endlo&#x017F;em Streit geführt. Oder wie kann etwa<lb/>
eine bleibende Unterlage, an welcher Eigen&#x017F;chaften und Thätigkeiten<lb/>
wech&#x017F;eln, ohne daß die&#x017F;es Thätige &#x017F;elber in &#x017F;ich Veränderungen<lb/>
erführe, vorge&#x017F;tellt, wie für den Ver&#x017F;tand faßbar gemacht werden?</p><lb/>
              <p>Wären Sub&#x017F;tanz und Kau&#x017F;alität &#x017F;olche Formen der Intelli-<lb/>
genz a priori, &#x017F;onach mit der Intelligenz &#x017F;elber gegeben, alsdann<lb/>
könnten keine Be&#x017F;tandtheile die&#x017F;er Denkformen aufgegeben und mit<lb/>
anderen vertau&#x017F;cht werden. In Wirklichkeit nahm das mythi&#x017F;che<lb/>
Vor&#x017F;tellen, wie wir &#x017F;ahen, in den Ur&#x017F;achen eine freie Lebendig-<lb/>
keit und &#x017F;eeli&#x017F;che Kraft an, welche in un&#x017F;erem Begriff einer Ur&#x017F;ache<lb/>
im Naturlauf nicht mehr anzutreffen i&#x017F;t. Die Elemente, welche<lb/>
ur&#x017F;prünglich in der Ur&#x017F;ache vorge&#x017F;tellt wurden, haben eine be&#x017F;tän-<lb/>
dige Minderung erfahren, und andere &#x017F;ind in einem Vorgang von<lb/>
Anpa&#x017F;&#x017F;ung der ur&#x017F;prünglichen Vor&#x017F;tellung an die Außenwelt in<lb/>
ihre Stelle eingetreten. Die&#x017F;e Begriffe haben eine Entwicklungs-<lb/>
ge&#x017F;chichte.</p><lb/>
              <p>Der Grund &#x017F;elber, aus welchem die Vor&#x017F;tellungen von Sub-<lb/>
&#x017F;tanz und Kau&#x017F;alität &#x017F;ich einer eindeutigen klaren Be&#x017F;timmung nicht<lb/>
fähig erwei&#x017F;en, kann innerhalb die&#x017F;er phänomenologi&#x017F;chen Betrach-<lb/>
tung der Metaphy&#x017F;ik nur als eine Möglichkeit vorgelegt werden,<lb/>
die dann die Erkenntnißtheorie zu erwei&#x017F;en hat. In der Tota-<lb/>
lität un&#x017F;erer Gemüthskräfte, in dem erfüllten lebendigen Selb&#x017F;t-<lb/>
bewußt&#x017F;ein, welches das Wirken eines Anderen erfährt, liegt der<lb/>
lebendige Ur&#x017F;prung die&#x017F;er beiden Begriffe. Nicht eine nachkommende<lb/>
Uebertragung aus dem Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein auf die an &#x017F;ich leblo&#x017F;e<lb/>
Außenwelt, durch welche die&#x017F;e letztere in mythi&#x017F;chem Vor&#x017F;tellen Leben<lb/>
empfinge, braucht hierbei angenommen zu werden. Das Andere<lb/>
kann im Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein &#x017F;o ur&#x017F;prünglich wie das Selb&#x017F;t als<lb/>
lebendige wirk&#x017F;ame Realität gegeben &#x017F;ein. Was aber in der Tota-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[510/0533] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. die Interpretation der Begriffe kein Streit: B kann unter dem Begriffe von Gleichheit nur daſſelbe als A denken. Die Begriffe von Kauſalität und Subſtanz ſind augenſcheinlich nicht von ſolcher Art. Sie haben einen dunklen Kern einer nicht in ſinnliche oder Ver- ſtandeselemente auflösbaren Thatſächlichkeit. Sie können nicht wie Zahlbegriffe in ihre Elemente eindeutig zerlegt werden; hat ihre Analyſis doch zu endloſem Streit geführt. Oder wie kann etwa eine bleibende Unterlage, an welcher Eigenſchaften und Thätigkeiten wechſeln, ohne daß dieſes Thätige ſelber in ſich Veränderungen erführe, vorgeſtellt, wie für den Verſtand faßbar gemacht werden? Wären Subſtanz und Kauſalität ſolche Formen der Intelli- genz a priori, ſonach mit der Intelligenz ſelber gegeben, alsdann könnten keine Beſtandtheile dieſer Denkformen aufgegeben und mit anderen vertauſcht werden. In Wirklichkeit nahm das mythiſche Vorſtellen, wie wir ſahen, in den Urſachen eine freie Lebendig- keit und ſeeliſche Kraft an, welche in unſerem Begriff einer Urſache im Naturlauf nicht mehr anzutreffen iſt. Die Elemente, welche urſprünglich in der Urſache vorgeſtellt wurden, haben eine beſtän- dige Minderung erfahren, und andere ſind in einem Vorgang von Anpaſſung der urſprünglichen Vorſtellung an die Außenwelt in ihre Stelle eingetreten. Dieſe Begriffe haben eine Entwicklungs- geſchichte. Der Grund ſelber, aus welchem die Vorſtellungen von Sub- ſtanz und Kauſalität ſich einer eindeutigen klaren Beſtimmung nicht fähig erweiſen, kann innerhalb dieſer phänomenologiſchen Betrach- tung der Metaphyſik nur als eine Möglichkeit vorgelegt werden, die dann die Erkenntnißtheorie zu erweiſen hat. In der Tota- lität unſerer Gemüthskräfte, in dem erfüllten lebendigen Selbſt- bewußtſein, welches das Wirken eines Anderen erfährt, liegt der lebendige Urſprung dieſer beiden Begriffe. Nicht eine nachkommende Uebertragung aus dem Selbſtbewußtſein auf die an ſich lebloſe Außenwelt, durch welche dieſe letztere in mythiſchem Vorſtellen Leben empfinge, braucht hierbei angenommen zu werden. Das Andere kann im Selbſtbewußtſein ſo urſprünglich wie das Selbſt als lebendige wirkſame Realität gegeben ſein. Was aber in der Tota-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/533
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/533>, abgerufen am 27.04.2024.