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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Bewegung und Tanz. So stellen sie die Annäherungen der pdi_436.002
Liebe, wie das Zusammentreffen im Kriege dar. Der Tanz geht in pdi_436.003
Pantomime über. Dann steigern besonders die indianischen pdi_436.004
Stämme die Wirkung durch Anlegung von Masken. Die religiösen pdi_436.005
und politischen Handlungen der Indianer finden wir von pdi_436.006
solchen Pantomimen begleitet. Soll eine Unterhandlung zwischen pdi_436.007
zwei Indianerstämmen stattfinden, so nähern sich die Botschafter pdi_436.008
der einen Horde in feierlichem Tanz; sie überreichen die Pfeife pdi_436.009
oder das Zeichen des Friedens, und die Sachems des andern pdi_436.010
Lagers erwidern dies. Soll die Geburt eines Kindes gefeiert pdi_436.011
oder der Tod eines Freundes betrauert werden, so geschieht pdi_436.012
auch das hier in pantomimischen Tänzen, welche die Empfindung pdi_436.013
des Augenblicks wiedergeben. Ja solche Pantomimen machen pdi_436.014
einen Haupttheil des Cultus der Indianer aus. Sie werden vielfach pdi_436.015
in Masken und Verkleidungen aufgeführt, und diese Aufführungen pdi_436.016
kehren alljährlich wieder. Einundzwanzig solcher pdi_436.017
pantomimischen Festtänze haben heute noch die Irokesen. Ein pdi_436.018
Bär kommt so aus seiner Höhle hervor, dreimal muss er sich, pdi_436.019
nachdem auf ihn Jagd gemacht worden ist, in dieselbe wieder pdi_436.020
zurückziehen. Gerade die Thiermaske mit ihrer starken erschreckenden pdi_436.021
oder auch komischen Wirkung ist besonders beliebt, pdi_436.022
und sie ist der primitive Ausdruck jener Mischung des pdi_436.023
Furchterregenden oder Lächerlichen mit dem Hässlichen, die pdi_436.024
wir später als eines der wirksamsten poetischen Recepte kennen pdi_436.025
lernen werden. Zwischen dem Tanz und der mimischen Darstellung pdi_436.026
ist auf dieser niederen Stufe der Civilisation nirgend pdi_436.027
eine Grenze. Ich möchte sagen, der Tanz wird hier allmälig pdi_436.028
zur Kunstform für die dramatische Pantomime, wie es Metrum pdi_436.029
und Reim für die poetische Sprache sind. Bei den Negern von pdi_436.030
Akra tritt schon die lustige Person auf, deren Streiche mimisch pdi_436.031
dargestellt werden1).

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4. Im Folgenden werden wir durchweg die Technik grösserer pdi_436.033
dichterischer Gebilde, epischer oder dramatischer, erörtern.

1) pdi_436.034
Angaben über die Quellen bei Tylor, Anfänge der Cultur II 133, 421, pdi_436.035
Anthropologie 354 ff. Lubbock, Entstehung der Civilisation 445. Waitz, pdi_436.036
Anthropologie der Naturvölker II 243; III 137, 210; IV 123, 476.

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Bewegung und Tanz. So stellen sie die Annäherungen der pdi_436.002
Liebe, wie das Zusammentreffen im Kriege dar. Der Tanz geht in pdi_436.003
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  4. Im Folgenden werden wir durchweg die Technik grösserer pdi_436.033
dichterischer Gebilde, epischer oder dramatischer, erörtern.

1) pdi_436.034
Angaben über die Quellen bei Tylor, Anfänge der Cultur II 133, 421, pdi_436.035
Anthropologie 354 ff. Lubbock, Entstehung der Civilisation 445. Waitz, pdi_436.036
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[436/0138] pdi_436.001 Bewegung und Tanz. So stellen sie die Annäherungen der pdi_436.002 Liebe, wie das Zusammentreffen im Kriege dar. Der Tanz geht in pdi_436.003 Pantomime über. Dann steigern besonders die indianischen pdi_436.004 Stämme die Wirkung durch Anlegung von Masken. Die religiösen pdi_436.005 und politischen Handlungen der Indianer finden wir von pdi_436.006 solchen Pantomimen begleitet. Soll eine Unterhandlung zwischen pdi_436.007 zwei Indianerstämmen stattfinden, so nähern sich die Botschafter pdi_436.008 der einen Horde in feierlichem Tanz; sie überreichen die Pfeife pdi_436.009 oder das Zeichen des Friedens, und die Sachems des andern pdi_436.010 Lagers erwidern dies. Soll die Geburt eines Kindes gefeiert pdi_436.011 oder der Tod eines Freundes betrauert werden, so geschieht pdi_436.012 auch das hier in pantomimischen Tänzen, welche die Empfindung pdi_436.013 des Augenblicks wiedergeben. Ja solche Pantomimen machen pdi_436.014 einen Haupttheil des Cultus der Indianer aus. Sie werden vielfach pdi_436.015 in Masken und Verkleidungen aufgeführt, und diese Aufführungen pdi_436.016 kehren alljährlich wieder. Einundzwanzig solcher pdi_436.017 pantomimischen Festtänze haben heute noch die Irokesen. Ein pdi_436.018 Bär kommt so aus seiner Höhle hervor, dreimal muss er sich, pdi_436.019 nachdem auf ihn Jagd gemacht worden ist, in dieselbe wieder pdi_436.020 zurückziehen. Gerade die Thiermaske mit ihrer starken erschreckenden pdi_436.021 oder auch komischen Wirkung ist besonders beliebt, pdi_436.022 und sie ist der primitive Ausdruck jener Mischung des pdi_436.023 Furchterregenden oder Lächerlichen mit dem Hässlichen, die pdi_436.024 wir später als eines der wirksamsten poetischen Recepte kennen pdi_436.025 lernen werden. Zwischen dem Tanz und der mimischen Darstellung pdi_436.026 ist auf dieser niederen Stufe der Civilisation nirgend pdi_436.027 eine Grenze. Ich möchte sagen, der Tanz wird hier allmälig pdi_436.028 zur Kunstform für die dramatische Pantomime, wie es Metrum pdi_436.029 und Reim für die poetische Sprache sind. Bei den Negern von pdi_436.030 Akra tritt schon die lustige Person auf, deren Streiche mimisch pdi_436.031 dargestellt werden 1). pdi_436.032   4. Im Folgenden werden wir durchweg die Technik grösserer pdi_436.033 dichterischer Gebilde, epischer oder dramatischer, erörtern. 1) pdi_436.034 Angaben über die Quellen bei Tylor, Anfänge der Cultur II 133, 421, pdi_436.035 Anthropologie 354 ff. Lubbock, Entstehung der Civilisation 445. Waitz, pdi_436.036 Anthropologie der Naturvölker II 243; III 137, 210; IV 123, 476.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/138>, abgerufen am 27.04.2024.