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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Lieder ist die Antiphrase, an der ja auch Kinder sich regelmässig pdi_435.002
ergötzen; der Dakota lobt einen Tapferen mit den pdi_435.003
Worten: "Freund, Du hast Dich von den Ojibway schlagen pdi_435.004
lassen". Die Danakil und Somali haben in der grossen Fülle pdi_435.005
ihrer Gesänge einen bestimmten Rhythmus mit einer unvollkommenen pdi_435.006
Cadenz und einem unvollkommenen Reim1).

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Epischer Sang geht schon bei den Naturvölkern von den pdi_435.008
Thierfabeln bis zu dem epischen Lied als dem Element des pdi_435.009
heroischen Epos. In Senegambien besteht ein besonderer erblicher pdi_435.010
Stand der Sänger, Griots. Dass ihr epischer Sang auch pdi_435.011
nach seinem Inhalt dem des griechischen Rhapsoden verwandt pdi_435.012
ist, zeigt ein Bericht über die Weigerung der Königssöhne von pdi_435.013
Kaarta, zu fliehen, weil sonst die Sänger Schande über sie pdi_435.014
bringen würden. Und am Hofe des Königs von Dahomey wie pdi_435.015
in Sulimana haben diese Sänger zugleich das Amt, die Geschichten pdi_435.016
der Vergangenheit im Gedächtniss zu bewahren. Die pdi_435.017
amerikanischen Eingeborenen im Osten des Felsengebirges erhalten pdi_435.018
in der epischen Sage die Erinnerung an ihre Stammesgeschichte, pdi_435.019
entwerfen aber auch frei erfundene epische Erzählungen, pdi_435.020
die unserer Romanze oder Ballade vergleichbar sind. pdi_435.021
So verlässt in einer solchen Erzählung die Seele eines Kriegers pdi_435.022
das Schlachtfeld, zu sehen, wie tief man ihn betraure, oder ein pdi_435.023
geliebtes Weib kehrt aus dem Jenseits zur Erde, die Trauer pdi_435.024
über ihren frühen Tod zu erproben2).

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Die Völker niederster Civilisation zeigen auch auf dem Gebiet pdi_435.026
des Dramas Keime und erste Gebilde, welche ganz mit pdi_435.027
unseren Nachrichten und Schlüssen über Ursprung und Entfaltung pdi_435.028
der dramatischen Kunst bei den höher stehenden Völkern pdi_435.029
in Uebereinstimmung sind. Freude und Trauer, Liebe und pdi_435.030
Zorn, die grösste Leidenschaftlichkeit, selbst die Religion und pdi_435.031
ihr feierlicher Ernst äussern sich bei den Naturvölkern nicht pdi_435.032
nur in Laut und Sang, sondern auch in Geberde, rhythmischer

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Angaben über die Quellen unsrer Erkenntniss finden sich zunächst pdi_435.034
in Waitz, Anthropologie der Naturvölker II 236 ff., 524, III 231 ff., IV 476, pdi_435.035
Beispiele II 240 ff., III 232.
2) pdi_435.036
Angaben über die Quellen bei Waitz II 237 ff., III 234.

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Lieder ist die Antiphrase, an der ja auch Kinder sich regelmässig pdi_435.002
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Cadenz und einem unvollkommenen Reim1).

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  Epischer Sang geht schon bei den Naturvölkern von den pdi_435.008
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Kaarta, zu fliehen, weil sonst die Sänger Schande über sie pdi_435.014
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Angaben über die Quellen unsrer Erkenntniss finden sich zunächst pdi_435.034
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/137>, abgerufen am 10.05.2024.