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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Dichtkunst der Nachahmungstrieb und der uns gleichfalls angeborene pdi_441.004
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metrische Form eingeschlossen ist) unvermittelt neben einander1). pdi_441.006
Hiervon lag der Grund in seinem einseitigen Princip der Nachahmung. pdi_441.007
Unsere psychologische Grundlegung hat den Zusammenhang pdi_441.008
aufgezeigt. Das Gefühlsmässige der Handlungen und pdi_441.009
Charaktere tritt auch in dem Darstellungsmittel der Sprache, pdi_441.010
und zwar durch die Einbildungskraft gesteigert, hervor. Es besteht pdi_441.011
ein ursprüngliches Verhältniss zwischen den Bewegungen pdi_441.012
der Gefühle, den Spannungen des Willens, dem schnelleren oder pdi_441.013
langsameren Ablauf der Vorstellungen und dem Ton, seiner pdi_441.014
Stärke, Höhe, schnellen oder feierlichen Abfolge, seinem Steigen pdi_441.015
oder Fallen. Die Stärke und Beschaffenheit der Gefühle, die pdi_441.016
Energie der Willensspannung, der leichte, ja sich überstürzende pdi_441.017
Fluss der Vorstellungen in gehobener Stimmung, das Stocken pdi_441.018
derselben im Schmerz stehen in festen physiologisch bedingten pdi_441.019
Verhältnissen zur Höhe, Stärke und Geschwindigkeit der Töne. pdi_441.020
Diese werden erfahren in der betonten Rede. Wir dürfen annehmen, pdi_441.021
dass in den primitiven Zeiten bei grösserer Stärke des pdi_441.022
Gefühlsgehaltes die Rede dem Recitativischen näher stand. Von pdi_441.023
hier entnahm die Musik die Schemata der Melodieen, wie sich pdi_441.024
deutlich aus der nationalen Verschiedenheit derselben nachweisen pdi_441.025
lässt. Hier war auch der Ursprung des Metrums, pdi_441.026
welches ja zunächst mit dem Recitativischen oder Gesangsmässigen pdi_441.027
sowie mit dem Tanze noch verbunden war. So ergiebt pdi_441.028
sich, dass nicht die Verhältnisse der Zeitdauer für sich als pdi_441.029
primäre metrische Thatsachen zu betrachten sind, sondern die pdi_441.030
Verhältnisse von Energie, Widerstand, steigender und sinkender pdi_441.031
Bewegung etc. Aber der Versuch, Principien der metrischen pdi_441.032
Form zu finden, ist hoffnungslos, so lange mit der feineren pdi_441.033
Kenntniss der Sprachen der Naturvölker auch die ihrer metrischen pdi_441.034
Formen uns fehlt. Wir unterscheiden mit Mühe die metrische

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Vahlen, Beiträge zu Aristoteles Poetik I 11.

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dem Gegenstande der Poesie und ihrer metrischen Form noch pdi_441.002
nicht gesehen. Ihm stehen als die beiden αἰτίαι φυσικαί der pdi_441.003
Dichtkunst der Nachahmungstrieb und der uns gleichfalls angeborene pdi_441.004
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derselben im Schmerz stehen in festen physiologisch bedingten pdi_441.019
Verhältnissen zur Höhe, Stärke und Geschwindigkeit der Töne. pdi_441.020
Diese werden erfahren in der betonten Rede. Wir dürfen annehmen, pdi_441.021
dass in den primitiven Zeiten bei grösserer Stärke des pdi_441.022
Gefühlsgehaltes die Rede dem Recitativischen näher stand. Von pdi_441.023
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Form zu finden, ist hoffnungslos, so lange mit der feineren pdi_441.033
Kenntniss der Sprachen der Naturvölker auch die ihrer metrischen pdi_441.034
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/143>, abgerufen am 04.05.2024.