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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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im Spiel und Gegenspiel vor. Sie ist zu einem eigenthümlichen pdi_454.008
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Personen vielfach nur Masken. Die klassische französische pdi_454.016
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Ebenso sind die Wahlverwandtschaften gewiss nicht eine Novelle, pdi_454.022
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Gegenspiels benutzt, aber den inneren Vorgang im Helden pdi_454.026
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und seinem Wesen fühlt und monologisch ausspricht. Dieselbe pdi_454.031
Grundform der Fabel bildet sich in dem neueren Roman aus. Das pdi_454.032
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fröhlich entgegeneilende Geist, ihm gegenüber aber die Welt, pdi_454.035
- wer verlangt, dass ich sie charakterisire? - auf diesem Gegensatz pdi_454.036
baut sich das Epos unserer individualistischen Epoche auf.

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[454/0156] pdi_454.001 Helden, oder in der nach Spiel und Gegenspiel vertheilten pdi_454.002 Handlung. In Drama wie Roman haben die pdi_454.003 romanischen Völker die zweite Form besonders ausgebildet. pdi_454.004 Die erste ist bei den germanischen vorwiegend pdi_454.005 vertreten. pdi_454.006   Schon bei den Griechen herrscht die Führung der Handlung pdi_454.007 im Spiel und Gegenspiel vor. Sie ist zu einem eigenthümlichen pdi_454.008 Gleichgewicht von Rede und Gegenrede in der halbmusikalischen pdi_454.009 Form ihres Dramas ausgebildet. Die Spanier pdi_454.010 haben einen erstaunlichen Scharfsinn aufgewandt, sinnlich mächtige pdi_454.011 Situationen zu einer spannenden, in Spiel und Gegenspiel pdi_454.012 durch immer neue Theaterstreiche überraschenden Handlung zu pdi_454.013 verketten. Eines der glänzendsten Beispiele hiervon ist der „Weber pdi_454.014 von Segovia“ von Juan Ruiz de Alarcon. Dagegen sind ihre pdi_454.015 Personen vielfach nur Masken. Die klassische französische pdi_454.016 Tragödie hat nur die spanische Technik simplificirt, und die französische pdi_454.017 Komödie seit Molière hat dieser Form die höchste pdi_454.018 Vollendung gegeben: als der am meisten dichterische Ausdruck pdi_454.019 des französischen Geistes überhaupt. Auch der Roman der pdi_454.020 Franzosen ist in der Regel von einer Krisis aus construirt. pdi_454.021 Ebenso sind die Wahlverwandtschaften gewiss nicht eine Novelle, pdi_454.022 sondern ein Roman von dieser Structurform. Das Drama und der pdi_454.023 Roman der Deutschen und Engländer haben eine Form ausgebildet, pdi_454.024 welche zwar vielfach die Kunstgriffe des Spiels und des pdi_454.025 Gegenspiels benutzt, aber den inneren Vorgang im Helden pdi_454.026 zum Mittelpunkt der poetischen Wirkung macht. Das giebt dem pdi_454.027 Helden Shakespeares die wuchtige Ueberlegenheit über die ihn pdi_454.028 umgebenden Personen, dass er allein mit sich zu Rathe geht, pdi_454.029 mit seinem Gewissen ringt und sich in seiner Verantwortlichkeit pdi_454.030 und seinem Wesen fühlt und monologisch ausspricht. Dieselbe pdi_454.031 Grundform der Fabel bildet sich in dem neueren Roman aus. Das pdi_454.032 erfahrungslose Herz, das in die Welt tritt, der optimistische, noch pdi_454.033 mit den Untiefen der Menschennatur unbekannte und der Zukunft pdi_454.034 fröhlich entgegeneilende Geist, ihm gegenüber aber die Welt, pdi_454.035 ─ wer verlangt, dass ich sie charakterisire? ─ auf diesem Gegensatz pdi_454.036 baut sich das Epos unserer individualistischen Epoche auf.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/156>, abgerufen am 04.05.2024.