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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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welche die Nötigung des Sinkens traf. Erfahren diese Dis
positionen irgendwoher eine Unterstützung und Stärkung, so
kann es jederzeit kommen, dass die unterdrückenden und
hemmenden Vorstellungen ihrerseits zu unterdrückten werden
und das scheinbar Vergessene in voller Klarheit wieder ersteht.

Nach einer dritten Ansicht endlich ist es statt einer
gradweisen Verdunkelung vielmehr ein Zerbröckeln in Teile
und der Verlust einzelner Teile, in denen wenigstens bei zu-
sammengesetzten Vorstellungen das Vergessen besteht. Die
vorhin aushülfsweise herangezogene Vorstellung der Auflösung
bestreitet hier alleine die Erklärung. "Das Bild eines zu-
sammengesetzten Gegenstandes ist in unserer Erinnerung nicht
darum dunkel, weil es mit der geordneten Gesamtheit aller
seiner Teile vorhanden und nur im ganzen von einem schwä-
cheren Lichte des Bewusstseins bestrahlt wäre; sondern es ist
lückenhaft geworden; einzelne Teile fehlen ihm ganz; vor
allem aber pflegt die genaue Verbindungsweise der noch vor-
handenen zu mangeln und wird nur durch den Gedanken
ersetzt, dass irgend eine Art der Verknüpfung zwischen ihnen
stattgefunden habe; die Weite des Spielraums, innerhalb
dessen wir, ohne uns entscheiden zu können, diese oder jene
Verknüpfung gleich wahrscheinlich finden, bestimmt den Grad
der Dunkelheit, den wir dieser Vorstellung zuschreiben*."

Jede dieser Auffassungen empfängt eine gewisse, aber
keine eine ausschliessliche Unterstützung durch die thatsäch-
lichen, oder doch für thatsächlich gehaltenen, inneren Erfah-
rungen, die sich uns gelegentlich darbieten. Und woran liegt
das? Daran, dass diese gelegentlich und direkt gewonnenen
inneren Erfahrungen viel zu vage, oberflächlich und vieldeutig
sind, um in ihrer Gesamtheit nur eine einzige Interpretation

* Lotze, Metaphysik (1879) S. 521; auch Mikrokosmus3 I S. 231 ff.

welche die Nötigung des Sinkens traf. Erfahren diese Dis
positionen irgendwoher eine Unterstützung und Stärkung, so
kann es jederzeit kommen, daſs die unterdrückenden und
hemmenden Vorstellungen ihrerseits zu unterdrückten werden
und das scheinbar Vergessene in voller Klarheit wieder ersteht.

Nach einer dritten Ansicht endlich ist es statt einer
gradweisen Verdunkelung vielmehr ein Zerbröckeln in Teile
und der Verlust einzelner Teile, in denen wenigstens bei zu-
sammengesetzten Vorstellungen das Vergessen besteht. Die
vorhin aushülfsweise herangezogene Vorstellung der Auflösung
bestreitet hier alleine die Erklärung. „Das Bild eines zu-
sammengesetzten Gegenstandes ist in unserer Erinnerung nicht
darum dunkel, weil es mit der geordneten Gesamtheit aller
seiner Teile vorhanden und nur im ganzen von einem schwä-
cheren Lichte des Bewuſstseins bestrahlt wäre; sondern es ist
lückenhaft geworden; einzelne Teile fehlen ihm ganz; vor
allem aber pflegt die genaue Verbindungsweise der noch vor-
handenen zu mangeln und wird nur durch den Gedanken
ersetzt, daſs irgend eine Art der Verknüpfung zwischen ihnen
stattgefunden habe; die Weite des Spielraums, innerhalb
dessen wir, ohne uns entscheiden zu können, diese oder jene
Verknüpfung gleich wahrscheinlich finden, bestimmt den Grad
der Dunkelheit, den wir dieser Vorstellung zuschreiben*.“

Jede dieser Auffassungen empfängt eine gewisse, aber
keine eine ausschlieſsliche Unterstützung durch die thatsäch-
lichen, oder doch für thatsächlich gehaltenen, inneren Erfah-
rungen, die sich uns gelegentlich darbieten. Und woran liegt
das? Daran, daſs diese gelegentlich und direkt gewonnenen
inneren Erfahrungen viel zu vage, oberflächlich und vieldeutig
sind, um in ihrer Gesamtheit nur eine einzige Interpretation

* Lotze, Metaphysik (1879) S. 521; auch Mikrokosmus3 I S. 231 ff.
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[88/0104] welche die Nötigung des Sinkens traf. Erfahren diese Dis positionen irgendwoher eine Unterstützung und Stärkung, so kann es jederzeit kommen, daſs die unterdrückenden und hemmenden Vorstellungen ihrerseits zu unterdrückten werden und das scheinbar Vergessene in voller Klarheit wieder ersteht. Nach einer dritten Ansicht endlich ist es statt einer gradweisen Verdunkelung vielmehr ein Zerbröckeln in Teile und der Verlust einzelner Teile, in denen wenigstens bei zu- sammengesetzten Vorstellungen das Vergessen besteht. Die vorhin aushülfsweise herangezogene Vorstellung der Auflösung bestreitet hier alleine die Erklärung. „Das Bild eines zu- sammengesetzten Gegenstandes ist in unserer Erinnerung nicht darum dunkel, weil es mit der geordneten Gesamtheit aller seiner Teile vorhanden und nur im ganzen von einem schwä- cheren Lichte des Bewuſstseins bestrahlt wäre; sondern es ist lückenhaft geworden; einzelne Teile fehlen ihm ganz; vor allem aber pflegt die genaue Verbindungsweise der noch vor- handenen zu mangeln und wird nur durch den Gedanken ersetzt, daſs irgend eine Art der Verknüpfung zwischen ihnen stattgefunden habe; die Weite des Spielraums, innerhalb dessen wir, ohne uns entscheiden zu können, diese oder jene Verknüpfung gleich wahrscheinlich finden, bestimmt den Grad der Dunkelheit, den wir dieser Vorstellung zuschreiben *.“ Jede dieser Auffassungen empfängt eine gewisse, aber keine eine ausschlieſsliche Unterstützung durch die thatsäch- lichen, oder doch für thatsächlich gehaltenen, inneren Erfah- rungen, die sich uns gelegentlich darbieten. Und woran liegt das? Daran, daſs diese gelegentlich und direkt gewonnenen inneren Erfahrungen viel zu vage, oberflächlich und vieldeutig sind, um in ihrer Gesamtheit nur eine einzige Interpretation * Lotze, Metaphysik (1879) S. 521; auch Mikrokosmus3 I S. 231 ff.

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/104>, abgerufen am 26.04.2024.