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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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gekommen, als den Sohn eines armen Schneiders zu
Jena oder Weimar, und lassen Sie ihn seine Laufbahn
an gedachten kleinen Orten gleich kümmerlich fortsetzen,
und fragen Sie sich, welche Früchte dieser selbe Baum,
in einem solchen Boden und in einer solchen Atmos¬
phäre aufgewachsen, wohl würde getragen haben."

"Also, mein Guter, ich wiederhole: es kommt dar¬
auf an, daß in einer Nation viel Geist und tüchtige
Bildung in Cours sey, wenn ein Talent sich schnell
und freudig entwickeln soll."

"Wir bewundern die Tragödieen der alten Griechen;
allein, recht besehen, sollten wir mehr die Zeit und die
Nation bewundern, in der sie möglich waren, als die
einzelnen Verfasser. -- Denn wenn auch diese Stücke
unter sich ein wenig verschieden, und wenn auch der
eine dieser Poeten ein wenig größer und vollendeter
erscheint als der andere, so trägt doch, im Groben
und Ganzen betrachtet, Alles nur einen einzigen durch¬
gehenden Charakter. Dieß ist der Charakter des Gro߬
artigen, des Tüchtigen, des Gesunden, des Menschlich-
Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen
Denkungsweise, der reinkräftigen Anschauung, und
welche Eigenschaften man noch sonst aufzählen könnte.
-- Finden sich nun aber alle diese Eigenschaften nicht
bloß in den auf uns gekommenen dramatischen, sondern
auch in den lyrischen und epischen Werken; finden wir
sie ferner bei den Philosophen, Rhetoren und Geschichts¬

gekommen, als den Sohn eines armen Schneiders zu
Jena oder Weimar, und laſſen Sie ihn ſeine Laufbahn
an gedachten kleinen Orten gleich kümmerlich fortſetzen,
und fragen Sie ſich, welche Früchte dieſer ſelbe Baum,
in einem ſolchen Boden und in einer ſolchen Atmos¬
phäre aufgewachſen, wohl würde getragen haben.“

„Alſo, mein Guter, ich wiederhole: es kommt dar¬
auf an, daß in einer Nation viel Geiſt und tüchtige
Bildung in Cours ſey, wenn ein Talent ſich ſchnell
und freudig entwickeln ſoll.“

„Wir bewundern die Tragödieen der alten Griechen;
allein, recht beſehen, ſollten wir mehr die Zeit und die
Nation bewundern, in der ſie möglich waren, als die
einzelnen Verfaſſer. — Denn wenn auch dieſe Stücke
unter ſich ein wenig verſchieden, und wenn auch der
eine dieſer Poeten ein wenig größer und vollendeter
erſcheint als der andere, ſo trägt doch, im Groben
und Ganzen betrachtet, Alles nur einen einzigen durch¬
gehenden Charakter. Dieß iſt der Charakter des Gro߬
artigen, des Tüchtigen, des Geſunden, des Menſchlich-
Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen
Denkungsweiſe, der reinkräftigen Anſchauung, und
welche Eigenſchaften man noch ſonſt aufzählen könnte.
— Finden ſich nun aber alle dieſe Eigenſchaften nicht
bloß in den auf uns gekommenen dramatiſchen, ſondern
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[164/0186] gekommen, als den Sohn eines armen Schneiders zu Jena oder Weimar, und laſſen Sie ihn ſeine Laufbahn an gedachten kleinen Orten gleich kümmerlich fortſetzen, und fragen Sie ſich, welche Früchte dieſer ſelbe Baum, in einem ſolchen Boden und in einer ſolchen Atmos¬ phäre aufgewachſen, wohl würde getragen haben.“ „Alſo, mein Guter, ich wiederhole: es kommt dar¬ auf an, daß in einer Nation viel Geiſt und tüchtige Bildung in Cours ſey, wenn ein Talent ſich ſchnell und freudig entwickeln ſoll.“ „Wir bewundern die Tragödieen der alten Griechen; allein, recht beſehen, ſollten wir mehr die Zeit und die Nation bewundern, in der ſie möglich waren, als die einzelnen Verfaſſer. — Denn wenn auch dieſe Stücke unter ſich ein wenig verſchieden, und wenn auch der eine dieſer Poeten ein wenig größer und vollendeter erſcheint als der andere, ſo trägt doch, im Groben und Ganzen betrachtet, Alles nur einen einzigen durch¬ gehenden Charakter. Dieß iſt der Charakter des Gro߬ artigen, des Tüchtigen, des Geſunden, des Menſchlich- Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen Denkungsweiſe, der reinkräftigen Anſchauung, und welche Eigenſchaften man noch ſonſt aufzählen könnte. — Finden ſich nun aber alle dieſe Eigenſchaften nicht bloß in den auf uns gekommenen dramatiſchen, ſondern auch in den lyriſchen und epiſchen Werken; finden wir ſie ferner bei den Philoſophen, Rhetoren und Geſchichts¬

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/186>, abgerufen am 29.04.2024.