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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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Gegenden an der Mittagsseite von Waldblößen antrifft
und die einen sehr weichen, flötenartigen, doch etwas
melancholischen Gesang hat. Sie hält sich nicht am
Ettersberge auf, der ihr zu lebhaft und zu nahe von
Menschen umwohnt ist; aber auch sie geht nicht in
Gebüsche.

"Hm! sagte Goethe, Sie scheinen in diesen Dingen
nicht eben ein Neuling zu seyn."

Ich habe das Fach von Jugend auf mit Liebe ge¬
trieben, erwiederte ich, und immer Augen und Ohren
dafür offen gehabt. Der ganze Wald des Ettersberges
hat wenige Stellen, die ich nicht zu wiederholten ma¬
len durchstreift bin. Wenn ich jetzt einen einzigen Ton
höre, so getraue ich mir zu sagen, von welchem Vogel
er kommt. Auch bin ich so weit, daß wenn man mir
irgend einen Vogel bringt, der in der Gefangenschaft
durch verkehrte Behandlung das Gefieder verloren hat,
ich mir getraue, ihn sehr bald vollkommen gesund und
wohl befiedert wieder herzustellen.

"Das zeigt allerdings, erwiederte Goethe, daß Sie
in diesen Dingen bereits Vieles durchgemacht haben.
Ich möchte Ihnen rathen, das Studium ernstlich fort
zu treiben; es muß bei Ihrer entschiedenen Richtung
zu sehr guten Resultaten führen. Aber sagen Sie mir
etwas über die Mauser. Sie sprachen vorhin von ver¬
späteten Grasmücken, die nach vollendeter Mauser aus
dem Dickicht des Ettersberges in die Felder herabge¬

Gegenden an der Mittagsſeite von Waldblößen antrifft
und die einen ſehr weichen, flötenartigen, doch etwas
melancholiſchen Geſang hat. Sie hält ſich nicht am
Ettersberge auf, der ihr zu lebhaft und zu nahe von
Menſchen umwohnt iſt; aber auch ſie geht nicht in
Gebüſche.

„Hm! ſagte Goethe, Sie ſcheinen in dieſen Dingen
nicht eben ein Neuling zu ſeyn.“

Ich habe das Fach von Jugend auf mit Liebe ge¬
trieben, erwiederte ich, und immer Augen und Ohren
dafür offen gehabt. Der ganze Wald des Ettersberges
hat wenige Stellen, die ich nicht zu wiederholten ma¬
len durchſtreift bin. Wenn ich jetzt einen einzigen Ton
höre, ſo getraue ich mir zu ſagen, von welchem Vogel
er kommt. Auch bin ich ſo weit, daß wenn man mir
irgend einen Vogel bringt, der in der Gefangenſchaft
durch verkehrte Behandlung das Gefieder verloren hat,
ich mir getraue, ihn ſehr bald vollkommen geſund und
wohl befiedert wieder herzuſtellen.

„Das zeigt allerdings, erwiederte Goethe, daß Sie
in dieſen Dingen bereits Vieles durchgemacht haben.
Ich möchte Ihnen rathen, das Studium ernſtlich fort
zu treiben; es muß bei Ihrer entſchiedenen Richtung
zu ſehr guten Reſultaten führen. Aber ſagen Sie mir
etwas über die Mauſer. Sie ſprachen vorhin von ver¬
ſpäteten Grasmücken, die nach vollendeter Mauſer aus
dem Dickicht des Ettersberges in die Felder herabge¬

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[181/0203] Gegenden an der Mittagsſeite von Waldblößen antrifft und die einen ſehr weichen, flötenartigen, doch etwas melancholiſchen Geſang hat. Sie hält ſich nicht am Ettersberge auf, der ihr zu lebhaft und zu nahe von Menſchen umwohnt iſt; aber auch ſie geht nicht in Gebüſche. „Hm! ſagte Goethe, Sie ſcheinen in dieſen Dingen nicht eben ein Neuling zu ſeyn.“ Ich habe das Fach von Jugend auf mit Liebe ge¬ trieben, erwiederte ich, und immer Augen und Ohren dafür offen gehabt. Der ganze Wald des Ettersberges hat wenige Stellen, die ich nicht zu wiederholten ma¬ len durchſtreift bin. Wenn ich jetzt einen einzigen Ton höre, ſo getraue ich mir zu ſagen, von welchem Vogel er kommt. Auch bin ich ſo weit, daß wenn man mir irgend einen Vogel bringt, der in der Gefangenſchaft durch verkehrte Behandlung das Gefieder verloren hat, ich mir getraue, ihn ſehr bald vollkommen geſund und wohl befiedert wieder herzuſtellen. „Das zeigt allerdings, erwiederte Goethe, daß Sie in dieſen Dingen bereits Vieles durchgemacht haben. Ich möchte Ihnen rathen, das Studium ernſtlich fort zu treiben; es muß bei Ihrer entſchiedenen Richtung zu ſehr guten Reſultaten führen. Aber ſagen Sie mir etwas über die Mauſer. Sie ſprachen vorhin von ver¬ ſpäteten Grasmücken, die nach vollendeter Mauſer aus dem Dickicht des Ettersberges in die Felder herabge¬

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/203>, abgerufen am 16.05.2024.