Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

lassen, aber noch zu jung, um allein zu fressen. Ich
gab mir mit ihm einen halben Tag viele Mühe; da er
aber durchaus nichts annehmen wollte, so setzte ich
ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten
Sänger, den ich schon seit Jahr und Tag im Käfig
gehabt und der außen vor meinem Fenster hing. Ich
dachte: wenn der Junge sieht wie der Alte frißt, so
wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm
nachmachen. Er that aber nicht so, sondern er öffnete
seinen Schnabel gegen den Alten und bewegte mit
bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn
der alte Hänfling sich seiner sogleich erbarmte und ihn
als Kind annahm und ihn fütterte, als wäre es sein
eigenes.

Ferner brachte man mir eine graue Grasemücke und
drei Junge, die ich zusammen in einen großen Käfig
that und die die Alte fütterte. Am andern Tage
brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nach¬
tigallen, die ich auch zu der Grasemücke that und die
von ihr gleichfalls adoptirt und gefüttert wurden.
Darauf nach einigen Tagen setzte ich noch ein Nest
mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und
ferner noch ein Nest mit fünf jungen Plattmönchen.
Diese alle nahm die Grasemücke an und fütterte sie
und sorgte für sie als treue Mutter. Sie hatte immer
den Schnabel voll Ameiseneyer und war bald in der
einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der

laſſen, aber noch zu jung, um allein zu freſſen. Ich
gab mir mit ihm einen halben Tag viele Mühe; da er
aber durchaus nichts annehmen wollte, ſo ſetzte ich
ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten
Sänger, den ich ſchon ſeit Jahr und Tag im Käfig
gehabt und der außen vor meinem Fenſter hing. Ich
dachte: wenn der Junge ſieht wie der Alte frißt, ſo
wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm
nachmachen. Er that aber nicht ſo, ſondern er öffnete
ſeinen Schnabel gegen den Alten und bewegte mit
bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn
der alte Hänfling ſich ſeiner ſogleich erbarmte und ihn
als Kind annahm und ihn fütterte, als wäre es ſein
eigenes.

Ferner brachte man mir eine graue Graſemücke und
drei Junge, die ich zuſammen in einen großen Käfig
that und die die Alte fütterte. Am andern Tage
brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nach¬
tigallen, die ich auch zu der Graſemücke that und die
von ihr gleichfalls adoptirt und gefüttert wurden.
Darauf nach einigen Tagen ſetzte ich noch ein Neſt
mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und
ferner noch ein Neſt mit fünf jungen Plattmönchen.
Dieſe alle nahm die Graſemücke an und fütterte ſie
und ſorgte für ſie als treue Mutter. Sie hatte immer
den Schnabel voll Ameiſeneyer und war bald in der
einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0240" n="218"/>
la&#x017F;&#x017F;en, aber noch zu jung, um allein zu fre&#x017F;&#x017F;en. Ich<lb/>
gab mir mit ihm einen halben Tag viele Mühe; da er<lb/>
aber durchaus nichts annehmen wollte, &#x017F;o &#x017F;etzte ich<lb/>
ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten<lb/>
Sänger, den ich &#x017F;chon &#x017F;eit Jahr und Tag im Käfig<lb/>
gehabt und der außen vor meinem Fen&#x017F;ter hing. Ich<lb/>
dachte: wenn der Junge &#x017F;ieht wie der Alte frißt, &#x017F;o<lb/>
wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm<lb/>
nachmachen. Er that aber nicht &#x017F;o, &#x017F;ondern er öffnete<lb/>
&#x017F;einen Schnabel gegen den Alten und bewegte mit<lb/>
bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn<lb/>
der alte Hänfling &#x017F;ich &#x017F;einer &#x017F;ogleich erbarmte und ihn<lb/>
als Kind annahm und ihn fütterte, als wäre es &#x017F;ein<lb/>
eigenes.</p><lb/>
          <p>Ferner brachte man mir eine graue Gra&#x017F;emücke und<lb/>
drei Junge, die ich zu&#x017F;ammen in einen großen Käfig<lb/>
that und die die Alte fütterte. Am andern Tage<lb/>
brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nach¬<lb/>
tigallen, die ich auch zu der Gra&#x017F;emücke that und die<lb/>
von ihr gleichfalls adoptirt und gefüttert wurden.<lb/>
Darauf nach einigen Tagen &#x017F;etzte ich noch ein Ne&#x017F;t<lb/>
mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und<lb/>
ferner noch ein Ne&#x017F;t mit fünf jungen Plattmönchen.<lb/>
Die&#x017F;e alle nahm die Gra&#x017F;emücke an und fütterte &#x017F;ie<lb/>
und &#x017F;orgte für &#x017F;ie als treue Mutter. Sie hatte immer<lb/>
den Schnabel voll Amei&#x017F;eneyer und war bald in der<lb/>
einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[218/0240] laſſen, aber noch zu jung, um allein zu freſſen. Ich gab mir mit ihm einen halben Tag viele Mühe; da er aber durchaus nichts annehmen wollte, ſo ſetzte ich ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten Sänger, den ich ſchon ſeit Jahr und Tag im Käfig gehabt und der außen vor meinem Fenſter hing. Ich dachte: wenn der Junge ſieht wie der Alte frißt, ſo wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm nachmachen. Er that aber nicht ſo, ſondern er öffnete ſeinen Schnabel gegen den Alten und bewegte mit bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn der alte Hänfling ſich ſeiner ſogleich erbarmte und ihn als Kind annahm und ihn fütterte, als wäre es ſein eigenes. Ferner brachte man mir eine graue Graſemücke und drei Junge, die ich zuſammen in einen großen Käfig that und die die Alte fütterte. Am andern Tage brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nach¬ tigallen, die ich auch zu der Graſemücke that und die von ihr gleichfalls adoptirt und gefüttert wurden. Darauf nach einigen Tagen ſetzte ich noch ein Neſt mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und ferner noch ein Neſt mit fünf jungen Plattmönchen. Dieſe alle nahm die Graſemücke an und fütterte ſie und ſorgte für ſie als treue Mutter. Sie hatte immer den Schnabel voll Ameiſeneyer und war bald in der einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/240
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/240>, abgerufen am 15.05.2024.