Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

andern, und wo nur immer eine hungrige Kehle sich
öffnete, da war sie da. -- Ja noch mehr! -- Auch
das eine indeß herangewachsene Junge der Grasmücke
fing an, einige der Kleineren zu füttern, zwar noch
spielend und etwas kinderhaft, aber doch schon mit ent¬
schiedenem Triebe, es der trefflichen Mutter nachzuthun.

"Da stehen wir allerdings vor etwas Göttlichem,
sagte Goethe, das mich in ein freudiges Erstaunen
setzt. Wäre es wirklich, daß dieses Füttern eines Frem¬
den als etwas Allgemein-Gesetzliches durch die Natur
ginge, so wäre damit manches Räthsel gelös't, und man
könnte mit Ueberzeugung sagen: daß Gott sich der ver¬
wais'ten jungen Raben erbarme, die ihn anrufen."

Etwas Allgemein-Gesetzliches, erwiederte ich, scheint
es allerdings zu seyn; denn ich habe auch im wilden
Zustande dieses hülfreiche Füttern und dieses Erbarmen
gegen Verlassene beobachtet.

Ich hatte im vorigen Sommer in der Nähe von
Tiefurt zwei junge Zaunkönige gefangen, die wahr¬
scheinlich erst ganz kürzlich ihr Nest verlassen hatten;
denn sie saßen in einem Busch auf einem Zweig nebst
sieben Geschwistern in einer Reihe und ließen sich von
ihren Alten füttern. Ich nahm die jungen Vögel in
mein seidenes Taschentuch und ging in der Richtung
nach Weimar bis an's Schießhaus, dann rechts nach
der Wiese an der Ilm hinunter und an dem Badeplatz
vorüber, und dann wieder links in das kleine Gehölz.

andern, und wo nur immer eine hungrige Kehle ſich
öffnete, da war ſie da. — Ja noch mehr! — Auch
das eine indeß herangewachſene Junge der Grasmücke
fing an, einige der Kleineren zu füttern, zwar noch
ſpielend und etwas kinderhaft, aber doch ſchon mit ent¬
ſchiedenem Triebe, es der trefflichen Mutter nachzuthun.

„Da ſtehen wir allerdings vor etwas Göttlichem,
ſagte Goethe, das mich in ein freudiges Erſtaunen
ſetzt. Wäre es wirklich, daß dieſes Füttern eines Frem¬
den als etwas Allgemein-Geſetzliches durch die Natur
ginge, ſo wäre damit manches Räthſel gelöſ't, und man
könnte mit Ueberzeugung ſagen: daß Gott ſich der ver¬
waiſ'ten jungen Raben erbarme, die ihn anrufen.“

Etwas Allgemein-Geſetzliches, erwiederte ich, ſcheint
es allerdings zu ſeyn; denn ich habe auch im wilden
Zuſtande dieſes hülfreiche Füttern und dieſes Erbarmen
gegen Verlaſſene beobachtet.

Ich hatte im vorigen Sommer in der Nähe von
Tiefurt zwei junge Zaunkönige gefangen, die wahr¬
ſcheinlich erſt ganz kürzlich ihr Neſt verlaſſen hatten;
denn ſie ſaßen in einem Buſch auf einem Zweig nebſt
ſieben Geſchwiſtern in einer Reihe und ließen ſich von
ihren Alten füttern. Ich nahm die jungen Vögel in
mein ſeidenes Taſchentuch und ging in der Richtung
nach Weimar bis an's Schießhaus, dann rechts nach
der Wieſe an der Ilm hinunter und an dem Badeplatz
vorüber, und dann wieder links in das kleine Gehölz.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0241" n="219"/>
andern, und wo nur immer eine hungrige Kehle &#x017F;ich<lb/>
öffnete, da war &#x017F;ie da. &#x2014; Ja noch mehr! &#x2014; Auch<lb/>
das eine indeß herangewach&#x017F;ene Junge der Grasmücke<lb/>
fing an, einige der Kleineren zu füttern, zwar noch<lb/>
&#x017F;pielend und etwas kinderhaft, aber doch &#x017F;chon mit ent¬<lb/>
&#x017F;chiedenem Triebe, es der trefflichen Mutter nachzuthun.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Da &#x017F;tehen wir allerdings vor etwas Göttlichem,<lb/>
&#x017F;agte Goethe, das mich in ein freudiges Er&#x017F;taunen<lb/>
&#x017F;etzt. Wäre es wirklich, daß die&#x017F;es Füttern eines Frem¬<lb/>
den als etwas Allgemein-Ge&#x017F;etzliches durch die Natur<lb/>
ginge, &#x017F;o wäre damit manches Räth&#x017F;el gelö&#x017F;'t, und man<lb/>
könnte mit Ueberzeugung &#x017F;agen: daß Gott &#x017F;ich der ver¬<lb/>
wai&#x017F;'ten jungen Raben erbarme, die ihn anrufen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Etwas Allgemein-Ge&#x017F;etzliches, erwiederte ich, &#x017F;cheint<lb/>
es allerdings zu &#x017F;eyn; denn ich habe auch im wilden<lb/>
Zu&#x017F;tande die&#x017F;es hülfreiche Füttern und die&#x017F;es Erbarmen<lb/>
gegen Verla&#x017F;&#x017F;ene beobachtet.</p><lb/>
          <p>Ich hatte im vorigen Sommer in der Nähe von<lb/>
Tiefurt zwei junge Zaunkönige gefangen, die wahr¬<lb/>
&#x017F;cheinlich er&#x017F;t ganz kürzlich ihr Ne&#x017F;t verla&#x017F;&#x017F;en hatten;<lb/>
denn &#x017F;ie &#x017F;aßen in einem Bu&#x017F;ch auf einem Zweig neb&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ieben Ge&#x017F;chwi&#x017F;tern in einer Reihe und ließen &#x017F;ich von<lb/>
ihren Alten füttern. Ich nahm die jungen Vögel in<lb/>
mein &#x017F;eidenes Ta&#x017F;chentuch und ging in der Richtung<lb/>
nach Weimar bis an's Schießhaus, dann rechts nach<lb/>
der Wie&#x017F;e an der Ilm hinunter und an dem Badeplatz<lb/>
vorüber, und dann wieder links in das kleine Gehölz.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[219/0241] andern, und wo nur immer eine hungrige Kehle ſich öffnete, da war ſie da. — Ja noch mehr! — Auch das eine indeß herangewachſene Junge der Grasmücke fing an, einige der Kleineren zu füttern, zwar noch ſpielend und etwas kinderhaft, aber doch ſchon mit ent¬ ſchiedenem Triebe, es der trefflichen Mutter nachzuthun. „Da ſtehen wir allerdings vor etwas Göttlichem, ſagte Goethe, das mich in ein freudiges Erſtaunen ſetzt. Wäre es wirklich, daß dieſes Füttern eines Frem¬ den als etwas Allgemein-Geſetzliches durch die Natur ginge, ſo wäre damit manches Räthſel gelöſ't, und man könnte mit Ueberzeugung ſagen: daß Gott ſich der ver¬ waiſ'ten jungen Raben erbarme, die ihn anrufen.“ Etwas Allgemein-Geſetzliches, erwiederte ich, ſcheint es allerdings zu ſeyn; denn ich habe auch im wilden Zuſtande dieſes hülfreiche Füttern und dieſes Erbarmen gegen Verlaſſene beobachtet. Ich hatte im vorigen Sommer in der Nähe von Tiefurt zwei junge Zaunkönige gefangen, die wahr¬ ſcheinlich erſt ganz kürzlich ihr Neſt verlaſſen hatten; denn ſie ſaßen in einem Buſch auf einem Zweig nebſt ſieben Geſchwiſtern in einer Reihe und ließen ſich von ihren Alten füttern. Ich nahm die jungen Vögel in mein ſeidenes Taſchentuch und ging in der Richtung nach Weimar bis an's Schießhaus, dann rechts nach der Wieſe an der Ilm hinunter und an dem Badeplatz vorüber, und dann wieder links in das kleine Gehölz.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/241
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/241>, abgerufen am 16.05.2024.