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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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Ich schickte mich an, zu gehen, weil ich wußte, daß es
der Abend war, wo Goethe mit Riemer zu arbeiten
pflegt. Allein Goethe bat mich, zu bleiben, welches
ich denn sehr gerne that und wodurch ich Zeuge einer
Unterhaltung wurde voll Uebermuth, Ironie und me¬
phistophelischer Laune von Seiten Goethe's.

"Da ist der Sömmering gestorben, fing Goethe an,
kaum elende 75 Jahre alt. Was doch die Menschen
für Lumpe sind, daß sie nicht die Courage haben, län¬
ger auszuhalten als das! Da lobe ich mir meinen
Freund Bentham, diesen höchst radicalen Narren; er
hält sich gut, und doch ist er noch einige Wochen älter
als ich."

Man könnte hinzufügen, erwiederte ich, daß er Ih¬
nen noch in einem andern Punkte gleicht, denn er
arbeitet noch immer mit der ganzen Thätigkeit der
Jugend.

"Das mag seyn, erwiederte Goethe; aber wir befin¬
den uns an den beiden entgegengesetzten Enden der
Kette: er will niederreißen, und ich möchte erhalten und
aufbauen. In seinem Alter so radical zu seyn, ist der
Gipfel aller Tollheit."

Ich denke, entgegnete ich, man muß zwei Arten
von Radicalismus unterscheiden. Der eine, um künftig
aufzubauen, will vorher reine Bahn machen und Alles
niederreißen; während der andere sich begnügt, auf die
schwachen Partieen und Fehler einer Staatsverwaltung

Ich ſchickte mich an, zu gehen, weil ich wußte, daß es
der Abend war, wo Goethe mit Riemer zu arbeiten
pflegt. Allein Goethe bat mich, zu bleiben, welches
ich denn ſehr gerne that und wodurch ich Zeuge einer
Unterhaltung wurde voll Uebermuth, Ironie und me¬
phiſtopheliſcher Laune von Seiten Goethe's.

„Da iſt der Sömmering geſtorben, fing Goethe an,
kaum elende 75 Jahre alt. Was doch die Menſchen
für Lumpe ſind, daß ſie nicht die Courage haben, län¬
ger auszuhalten als das! Da lobe ich mir meinen
Freund Bentham, dieſen höchſt radicalen Narren; er
hält ſich gut, und doch iſt er noch einige Wochen älter
als ich.“

Man könnte hinzufügen, erwiederte ich, daß er Ih¬
nen noch in einem andern Punkte gleicht, denn er
arbeitet noch immer mit der ganzen Thätigkeit der
Jugend.

„Das mag ſeyn, erwiederte Goethe; aber wir befin¬
den uns an den beiden entgegengeſetzten Enden der
Kette: er will niederreißen, und ich möchte erhalten und
aufbauen. In ſeinem Alter ſo radical zu ſeyn, iſt der
Gipfel aller Tollheit.“

Ich denke, entgegnete ich, man muß zwei Arten
von Radicalismus unterſcheiden. Der eine, um künftig
aufzubauen, will vorher reine Bahn machen und Alles
niederreißen; während der andere ſich begnügt, auf die
ſchwachen Partieen und Fehler einer Staatsverwaltung

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[322/0344] Ich ſchickte mich an, zu gehen, weil ich wußte, daß es der Abend war, wo Goethe mit Riemer zu arbeiten pflegt. Allein Goethe bat mich, zu bleiben, welches ich denn ſehr gerne that und wodurch ich Zeuge einer Unterhaltung wurde voll Uebermuth, Ironie und me¬ phiſtopheliſcher Laune von Seiten Goethe's. „Da iſt der Sömmering geſtorben, fing Goethe an, kaum elende 75 Jahre alt. Was doch die Menſchen für Lumpe ſind, daß ſie nicht die Courage haben, län¬ ger auszuhalten als das! Da lobe ich mir meinen Freund Bentham, dieſen höchſt radicalen Narren; er hält ſich gut, und doch iſt er noch einige Wochen älter als ich.“ Man könnte hinzufügen, erwiederte ich, daß er Ih¬ nen noch in einem andern Punkte gleicht, denn er arbeitet noch immer mit der ganzen Thätigkeit der Jugend. „Das mag ſeyn, erwiederte Goethe; aber wir befin¬ den uns an den beiden entgegengeſetzten Enden der Kette: er will niederreißen, und ich möchte erhalten und aufbauen. In ſeinem Alter ſo radical zu ſeyn, iſt der Gipfel aller Tollheit.“ Ich denke, entgegnete ich, man muß zwei Arten von Radicalismus unterſcheiden. Der eine, um künftig aufzubauen, will vorher reine Bahn machen und Alles niederreißen; während der andere ſich begnügt, auf die ſchwachen Partieen und Fehler einer Staatsverwaltung

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/344>, abgerufen am 04.05.2024.