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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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Eines Tages, da sie beyde zusammen einen,
ihnen bis jetzt noch unbekannten Weg eingeschlagen
und sich weiter als gewöhnlich von dem Schlosse
verirrt hatten, kamen sie auf einmal auf einer An¬
höhe zwischen den Bäumen heraus zu einer wun¬
dervollen Aussicht, die sie innigst überraschte. Mit¬
ten in der Waldeseinsamkeit stand nemlich ein Klo¬
ster auf einem Berge; hinter dem Berge lag plötz¬
lich das Meer in seiner schauerlichen Unermeßlich¬
keit, von der anderen Seite sah man weit in das
ebene Land hinaus. Es schien eben ein Fest in dem
Kloster gewesen zu seyn, denn lange bunte Züge
von Wallfahrern wallten durch das Grün den Berg
hinab und sangen geistliche Lieder, deren rührende
Weise sich gar anmuthig mit den Klängen der
Abendglocken vermischte, die ihnen von dem Kloster
nachhallten.

Leontin sah ihnen stillschweigend nach, bis ihr
Gesang in der Ferne verhallte und die Gegend in
dämmernde Stille versank. Dann nahm er die
Guitarre, die hier überall seine Begleiterin war,
und sang folgendes Lied:

Laß, mein Herz, das bange Trauern,
Um vergang'nes Erdenglück,
Ach, von dieser Felsen Mauern
Schweifet nur umsonst dem Blick!
Sind denn alle fortgegangen:
Jugend, Sang und Frühlingslust?
Lassen, scheidend, nur Verlangen
Einsam mir in meiner Brust?
Vöglein

Eines Tages, da ſie beyde zuſammen einen,
ihnen bis jetzt noch unbekannten Weg eingeſchlagen
und ſich weiter als gewöhnlich von dem Schloſſe
verirrt hatten, kamen ſie auf einmal auf einer An¬
höhe zwiſchen den Bäumen heraus zu einer wun¬
dervollen Ausſicht, die ſie innigſt überraſchte. Mit¬
ten in der Waldeseinſamkeit ſtand nemlich ein Klo¬
ſter auf einem Berge; hinter dem Berge lag plötz¬
lich das Meer in ſeiner ſchauerlichen Unermeßlich¬
keit, von der anderen Seite ſah man weit in das
ebene Land hinaus. Es ſchien eben ein Feſt in dem
Kloſter geweſen zu ſeyn, denn lange bunte Züge
von Wallfahrern wallten durch das Grün den Berg
hinab und ſangen geiſtliche Lieder, deren rührende
Weiſe ſich gar anmuthig mit den Klängen der
Abendglocken vermiſchte, die ihnen von dem Kloſter
nachhallten.

Leontin ſah ihnen ſtillſchweigend nach, bis ihr
Geſang in der Ferne verhallte und die Gegend in
dämmernde Stille verſank. Dann nahm er die
Guitarre, die hier überall ſeine Begleiterin war,
und ſang folgendes Lied:

Laß, mein Herz, das bange Trauern,
Um vergang'nes Erdenglück,
Ach, von dieſer Felſen Mauern
Schweifet nur umſonſt dem Blick!
Sind denn alle fortgegangen:
Jugend, Sang und Frühlingsluſt?
Laſſen, ſcheidend, nur Verlangen
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[448/0454] Eines Tages, da ſie beyde zuſammen einen, ihnen bis jetzt noch unbekannten Weg eingeſchlagen und ſich weiter als gewöhnlich von dem Schloſſe verirrt hatten, kamen ſie auf einmal auf einer An¬ höhe zwiſchen den Bäumen heraus zu einer wun¬ dervollen Ausſicht, die ſie innigſt überraſchte. Mit¬ ten in der Waldeseinſamkeit ſtand nemlich ein Klo¬ ſter auf einem Berge; hinter dem Berge lag plötz¬ lich das Meer in ſeiner ſchauerlichen Unermeßlich¬ keit, von der anderen Seite ſah man weit in das ebene Land hinaus. Es ſchien eben ein Feſt in dem Kloſter geweſen zu ſeyn, denn lange bunte Züge von Wallfahrern wallten durch das Grün den Berg hinab und ſangen geiſtliche Lieder, deren rührende Weiſe ſich gar anmuthig mit den Klängen der Abendglocken vermiſchte, die ihnen von dem Kloſter nachhallten. Leontin ſah ihnen ſtillſchweigend nach, bis ihr Geſang in der Ferne verhallte und die Gegend in dämmernde Stille verſank. Dann nahm er die Guitarre, die hier überall ſeine Begleiterin war, und ſang folgendes Lied: Laß, mein Herz, das bange Trauern, Um vergang'nes Erdenglück, Ach, von dieſer Felſen Mauern Schweifet nur umſonſt dem Blick! Sind denn alle fortgegangen: Jugend, Sang und Frühlingsluſt? Laſſen, ſcheidend, nur Verlangen Einſam mir in meiner Bruſt? Vöglein

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/454>, abgerufen am 29.04.2024.